Reist man mit der Fähre von Travemünde nach Lettland, landet man entweder in Liepāja (ehemals Liebau) oder Ventspils (ehemals Windau). Beide Städte liegen an der Westküste und gehören laut latvia.travel.de zu den TOP 10 Touristenzielen des Landes. Im Fall von Liepaja zu Recht. Für Ventspils reicht unserer Meinung nach ein Stadtspaziergang. Und der dauert nicht mal lange.
Alles kann, nichts muss: Ventspils (ehemals Windau)
Die Hafenstadt an der Einmündung des Flusses Venta in die Ostsee ist mit 40.000 Einwohnern nicht eben groß. Uns kommt sie trotzdem quirlig vor. Aber wir kommen ja auch aus der Einsamkeit Livlands. Selbst Buxtehude käme für uns heute einer Metropole gleich. Wie alle Hafenstädte in Lettland betört und verstört auch Ventspils mit einem Durcheinander von krasser, industrieller Hässlichkeit, Prunk und Holzarchitektur zum Verlieben.
Unbedingt sehenswert ist der Markt. Er ist erstaunlich groß, findet täglich in der Altstadt statt und ließe jeden Demeter-Marktbeschicker vor Scham erröten. Allein wie es duftet! Nach Früchten und Erde und Blumen, Blumen, Blumen. Ventspils gilt als Blumenstadt und schmückt sich mit allerlei Blumenskulpturen in Form von Fischen und Enten und Zifferblättern und anderen 70er Jahre-Motiven.
Da wir uns weder für Plastikkühe noch Blumenskulpturen über einen längeren Zeitraum begeistern können, verlassen wir Ventspils bald, um der Venta ins Landesinnere zu folgen. Normalerweise verlassen wir die Küste ja sehr ungern. Aber mit der Venta ist das eine andere Sache. Und das Landesinnere von Lettland ist sowieso eine Wucht. Gehört also defintiv zu dem, was man (unserer Meinung nach) in Lettland gesehen haben muss.
Kleine und kleinste Dörfer, ab und zu mal eine Burg und kaum je ein Haus ohne Storchnnest. In der Ursprünglichkeit Lettlands möchte man sich verlieren. Möchte man eigentlich gar nichts mehr vorhaben, sondern einfach nur sein. Gerade an einem Bilderbuch-Sommertag wie diesem. Besonders in Edole geraten wir ins Schwärmen. Die imposante Burg berherbergt u.a. ein Hotel; mit DZ ab 40 Euro pro Nacht, was einem als Nordeuropäer kaum in den Kopf will.
Ganz in der Nähe von Edole liegt der Grund, warum Lettland von einem „Müsste man auch irgendwann mal hin“-Land zum konkreten Reiseziel für uns wurde: Kuldiga.
Was man in Lettland gesehen haben muss: Kuldiga (ehemals Goldingen).
Die Kleinstadt Kuldiga gilt vielen als schönste Stadt überhaupt in Lettland. Und das ist sie auch – jedenfalls unter den Städten, die wir gesehen haben. Man darf sich vom ersten Eindruck nicht täuschen lassen. Gerade dort, wo alles so aussieht, als wäre seit 500 Jahren nicht renoviert worden, wartet im Inneren oft das stylishste Restaurant oder Geschäft.
Die meisten Touristen kommen allerding nicht wegen der wunderbaren Altstadt. Sondern weil die Venta hier über eine kleine Dolomitbarriere stürzt. Zugegeben nicht sehr hoch (max 2.20 m) – aber dafür 240 Meter breit.
Die Ventas Rumba (Windauer Rummel) gilt als breitester Wasserfall Europas.
Die Kinder von Kuldiga baden auf ungeheuer waghalsige Weise an den Stromschnellen. Und auch für weniger risikofreudige Menschen ist es eine beliebte Mutprobe, am Rand des Falls von einem zum anderen Ufer zu balancieren. Logischerweise ist das Ganze schön glitschig und unheimlich und gehört unbedingt zu einem Urlaub in Lettland dazu.
Auch ansonsten dreht sich in Kuldiga alles um Wasser, Bäche, Brunnen, Flussbäder, Brücken, Teiche und es plätschert und tröpfelt und strömt an jeder Ecke und hinter jedem Haus.
Selbst Wasserratten können also in Kuldiga glücklich werden, aber wir haben ausnahmsweise eine Unterkunft vorgebucht, so dass wir uns zurück an die Küste schlagen müssen. Oder dürfen. Denn jetzt erreichen wir den Ort, der uns immer im Herzen sein wird, wenn wir an Lettland denken.
Was man in Lettland gefühlt haben muss: Jurkalne (ehemals Felixberg)
Ich hab mir Lettland ähnlich wie Litauen vorgestellt, empfand die ersten Tage unseres Roadtrips aber ganz anders. Natürlich, von Riga bis zum Kap Kolka cruisten wir entlang der Rigaer Bucht. Nun sind wir an der Westküste, der echten, richtigen, wirklichen Ostsee und die Ähnlichkeit zu Litauen ist da. Nur dass die Strände in Lettland viel, viel, viel weniger frequentiert sind als in Litauen.
Falls sich Letten überhaupt mal an einem Strand konzentrieren, hat es mit der Wassertemperatur zu tun. Obwohl der Sommer in Lettland heiß und trocken ist, machen kalte Strömungen an der Westküste das Baden mancherorts unmöglich. Dagegen helfen nur vorgelagerte Sandbänke; so wie in Jurkalne.
Die Ostsee ist hier steinfrei und flach. Die Temperatur ist schwer zu schätzen; aber ich vermute mal, sie liegt über 18 Grad, denn wir haben keine größeren Schwierigkeiten, uns zu überwinden. Und könnten ewig im Wasser bleiben. (Was uns in Deutschland eher selten passiert).
Legt man am Strand den Kopf in den Nacken, sieht man die Kiefern gefährlich schwanken. Das quietscht und knarrt auf unheimliche Weise. Die Steilküste von Jurkalne bricht in kalten Wintern auf mehreren Metern. Die steilen Holztreppen werden daher in regelmäßigen Abständen neu errichtet.
Jurkalne kommt uns wie das Kampen von Lettland vor. Nicht, dass es ein Geschäft gäbe (abgesehen von einem kleinen Supermarkt) oder ein Nachtleben. Doch man sieht es an den Gästen und die insgesamt 4 Hotels und 4 Restaurants sind schon außergewöhnlich geschmackvoll. Empfehlen können wir das Pilsbergi; zur Übernachtung wie zum Essen gehen. Das Doppelzimmer im Pilsbergi kostet 55 Euro. Der Strand ist nur einen kurzen Sandweg über die Wiese und den Wald entfernt. Am Wochenende ist das Hotel in der Regel ausgebucht.
In Lettland bleibt die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte nie aus. Auf der Wiese vor dem Pilsbergi erinnert ein Gedenkstein an die Menschen, die in Jurkalne auf die Flucht vor den Nazis gingen. In hoffnungslos überfüllten, nicht immer seetüchtigen Booten versuchten sie, nach Schweden zu gelangen. Wie viele ertranken, weiß man nicht. Ganz wie heute im Mittelmeer.
Es ist so groß von den Letten, dass sie trotz allem, was Deutsche ihnen in den Weltkriegen angetan haben, die deutsch-baltische Vergangenheit nicht negieren. Wie viele Orte in Lettland wurde auch Jurkalne von einem Deutschen gegründet, einem Kapitän, der sein Schiff während eines Unwetters auf die Sandbank retten konnte. Zum Dank errichtete er eine Kirche am glücklichen Berg – Felixberg, lettisch: Jurkalne.
Neben dem Strand sind die größten touristischen Highlights von Jurkalne
- das Zivas Krogs, ein Ausflugslokal errichtet auf der Ruine einer alten Wassermühle
- eine Backstube, in der Maize (ein extrem leckeres Schwarzbrot) noch auf die alte Weise gebacken wird und
- zwei Höfe auf denen blaue Kühe leben.
In Jurkalne möchte man eigentlich länger bleiben, als nur ein, zwei Nächte. Wer keine Rundreise plant, sondern lieber sternenförmig von einer festen Unterkunft Ausflüge internimmt, ist hier bestens aufgehoben.
Jurkalne eignet sich auch deshalb als Ausgangspunkt für Ausflüge, weil es an einer asphaltierten Straße liegt. Das ist nicht selbstverständlich an Lettlands Küste. Viele Dörfer sind nur über Schotterpisten zu erreichen. Auf ihnen bewegt man sich aus Steinschlaggründen nur im Schneckentempo; eingehüllt in irrsinnige Staubwolken. Warum wir unsere Zelte auch an einem solchen Ort einmal aufgeschlagen haben, erzähle ich dann nächstes Mal.
Du hast mir nun endgültig richtig Lust auf das Land gemacht. Wie lange wart ihr unterwegs?
Leider nur 8 Tage. (Kam uns aber länger vor).
Das liegt an den vielen Eindrücken 😉 Genieße den Spätsommer! Mal wieder so ein extremer Höhepunkt:-) LG Simone
Ein schöner Bericht, liebe Stefanie! Besonders der Wasserfall gefällt mir richtig gut. Aber fast noch besser ist das Kopf-im-Nacken-Foto. Genial! ?
Liebe Grüße, Martina
Vielen Dank, Martina
Dein toller Bericht macht so richtig Lust auf Lettland! Es ist ja wunderschön da und so herrlich einsam. Danke für deine Einblicke in ein so oft übersehenes Land!
Liebe Grüße
Steffi
Gerne 🙂
Noch ein Hinweis zum Wasserfall in Kuldiga: um den ersten Mai herum kann man dort „fliegende Fische“ sehen – Lachse & Co. überwinden auf ihrem Weg in die Laichgründe dieses Hindernis in eleganten Sprüngen. Dazu gibt es dann ein Stadtfest und viel Trubel, aber es lohnt sich!
Und eine kleine (oder große?) Richtigstellung: die Menschen, die 1944 über das Meer setzten (die Parallele zu heutigen Bootsflüchtlingen gibt ein gutes Bild davon), flohen nicht vor den Nazis, sondern vor der Sowjetarmee.
Ehrlich? Ich könnte schwören auf der Info-Tafel in Jurkalne ist die Rede von Deutschen. Vielleicht gab es Beides? Im Sommer 44 fiel Lettland ja von einer Besatzungsmacht der anderen zu.
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[…] Wenn man schon mal da ist: zwei Tagesausflüge der Extraklasse sollte man sich nicht entgehen lassen. Der erste führt 50 km die Küste hinauf zur Steilküste von Jurkalne sowie zum breitesten Wasserfall Europas in Kuldiga. […]
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Was soll eigentlich immer dieser Unsinn mit „ehemals“? Windau ist einfach nur der deutsche Name der Stadt, die hieß offiziell nie so. Man sagt ja auch nicht Milano, ehemals Mailand.
Übrigens habe ich noch nie einen Amerikaner „München“ sagen hören, sondern immer nur Munich. Solche Peinlichkeiten fallen eben immer nur Deutschen ein! 🙁
Hallo Clara. „Der Unsinn“ hat einen geschichtlichen Hintergrund. Die Stadt wurde vom Deutschen Orden als Zentrum der „Kommende Windau“ gegründet. Es gibt viele Städte in den baltischen Ländern und Polen, die einen deutschen Ursprung haben. Und es gibt auch viele Menschen, denen die deutschen Namen noch geläufig sind. Man nutzt den Zusatz „ehemals“, um klarzustellen, dass es heute eben keine deutschen Städte mehr sind. Das ist also etwas grundlegend anderes als Mailand oder München. Wobei ich nicht genau verstehe, was Du daran peinlich finden würdest, wenn ein Amerikaner „München“ sagen würde?! Ich fände das ehrlich gesagt viel höflicher. Aber Menschen sind ja unterschiedlich. Gruß, Stefanie