Unser Gastautor Tom Frey ist als passionierter Surfer meist auf dem schnellsten Weg zur gewaltigsten Welle. Sein Beitrag aber erzählt von einem Ort, an dem die Zeit seit einhundert Jahren still steht. Toms Definition von „in der Nähe bleiben“ gibt zu denken. Aber lest selbst:
Sag mir wo die Blumen sind.
Ich weiß nicht, wie oft ich die Strecke zwischen Bapaume und Amiens in der Picardie im Nordosten Frankreichs schon gefahren bin.
Auf unzähligen Trips in die Bretagne oder die Normandie habe ich diese schnurgerade Landstraße genutzt, um Autobahngebühren und den 30 km langen Umweg zu sparen, den die Trassenführung der Autobahn auf dem Weg gen Westen verursacht.
Die Gegend, die man auf dieser Strecke durchquert, hat eine seltsame, bedrückende Aura. Erst nach einigen Fahrten konnte ich die Puzzlestücke langsam zusammensetzen und mir erklären, warum diese Landschaft so eine verstörende Wirkung entfaltet.
Die Gegend ist fast baumlos, geprägt durch große landwirtschaftliche Flächen, die vor allem wenn sie brach liegen sehr öde wirken. Das ist nun für Frankreich nichts Besonderes, die industrialisierte Landwirtschaft findet sich überall. Nach den ersten Fahrten bei Tageslicht fiel mir dann aber auf, dass hier kaum ein Gebäude älter als 80 – 90 Jahre war.
Dann waren da diese Monument-artigen Friedhöfe direkt neben der Straße, die man im Vorbeihuschen nur aus den Augenwinkeln wahrnahm. Und irgendwann fielen mir diese Schilder auf. Genauer gesagt, die auf etwa 5 km Straßenlänge verteilten rund 5 Schilder begannen, einen Kontext zu enthüllen.
„Ligne de front“ stand auf jedem Schild, dazu ein Datum, jeweils aus dem Jahr 1916 und den Monaten Juli bis November.
Sag mir wo die Blumen sind,
wo sind sie geblieben
Sag mir wo die Blumen sind,
was ist geschehen?
Sag mir wo die Blumen sind,
Mädchen pflückten sie geschwind
Wann wird man je verstehen,
wann wird man je verstehen?
Irgendwann war mir dann klar, dass diese Strecke durch Kampfgebiete der Schlacht an der Somme aus dem 1. Weltkrieg führte. In den Weilern innerhalb dieses Kampfgebiets waren dann auch immer wieder naive Plakate zu sehen, die versuchten, britische (damals inklusive der heutigen Commonwealth Gebiete) Kriegsveteranen in diese oder jene Kneipe zu locken.
Bei noch genauerem Hinsehen fielen mir dann unzählige Hinweisschilder auf, die auf Monumente und vor allem Friedhöfe hinwiesen, die offensichtlich abseits der Hauptstraße lagen.
Ich nahm mir mehrfach vor, einmal wenigstens an einem der Monumente direkt neben der Hauptstraße anzuhalten, um einen genaueren Blick darauf zu werfen, doch jedes Mal war ich zu schnell, um auf die winzigen Parkbuchten an den Monumenten einzubiegen.
Und umkehren wollte ich auch nicht, denn ich hatte ja ein anderes Ziel, das ich schnellstmöglich erreichen wollte.
Landstriche mit ähnlich verstörender Ausstrahlung kannte ich bereits aus der Normandie. Der Abschnitt zwischen den D-Day Stränden und Caen atmet ebenfalls noch den Horror des Gemetzels im Zuge der Invasion, die zur Befreiung Europas notwendig war, aus.
Der 1. Weltkrieg hingegen war für mich bisher mehr Folklore, unsere kollektive Erinnerung daran heftig überlagert von dem danach folgenden Irrsinn und unsere Großelterngeneration hatte lediglich ein paar Erinnerungsfetzen zum ersten großen Schlachten des vergangenen Jahrhunderts preisgegeben, die dann auch noch mehr nach Ferienlager klangen.
Sag mir wo die Mädchen sind,
wo sind sie geblieben?
Sag mir wo die Mädchen sind,
was ist geschehen?
Sag mir wo die Mädchen sind,
Männer nahmen sie geschwind
Wann wird man je verstehen?
Wann wird man je verstehen?
Als ich nun Anfang Januar wieder durch die Gegend kam, hatte ich die Zeit und die Muße, endlich einmal anzuhalten.
Kurz nach Albert steht auf der – wenn man nach Osten fährt – linken Straßenseite der erste Friedhof.
Er ist recht pompös aufgemacht, mit einem triumpfbogenartigen Eingangstor und einer massiven Umfriedung mit einem angedeuteten Säulengang, alles aus weißem Sandstein erstellt. Innerhalb der Einfriedung endlose Reihen von Grabsteinen, alle exakt gleich geformt und penibelst ausgerichtet.
Sag mir wo die Männer sind
wo sind sie geblieben?
Sag mir wo die Männer sind,
was ist geschehen?
Sag mir wo die Männer sind,
zogen fort, der Krieg beginnt,
Wann wird man je verstehen?
Wann wird man je verstehen?
Ein paar Hundert Meter weiter wieder direkt neben der Hauptstraße dann ein weiteres Monument. Eine Marmorplatte vor einem seltsam geformten Hügel. Die Innschrift besagt, dass dies die Ruinen einer Windmühle waren, die wohl strategische Bedeutung gehabt hat und schwer umkämpft war. Die Innschrift erzählt dann, dass beim Kampf um diese Ruinen im August 1916 mehr Australier gefallen sind, als auf jedem anderen Schlachtfeld des Kriegs.
Wieder ein paar Hundert Meter entfernt ein weiterer Friedhof. Anhand der Form der Grabsteine war sofort klar, dass hier wieder britische und Commonwealth Soldaten lagen. Oder das, was man für die Reste dieser Menschen hielt. Viele Grabsteine besagen lediglich, dass hier ein „Soldier oft the Great War“ liegt. „La Grande Guerre“ sagen die Franzosen zum ersten Weltkrieg, „The Great War“ nennen ihn die Briten.
Beide Nationen haben in diesem ersten Gemetzel einen wesentlich größeren Teil ihrer Bevölkerung verloren, als im zweiten Weltkrieg, wodurch der „Große Krieg“ bei beiden, aber insbesondere den Franzosen, wesentlich präsenter im kollektiven Gedächtnis ist, als bei uns zu Lande. „Grande“ oder „Great“ gibt diesen Ereignissen dabei auch eine Glorie, die neben der Betonung des nationalen „Erfolgserlebnisses“ wohl auch den Zweck hat, die Absurdität des Schlachtens in diesem Krieg aus der nationalen Erinnerung zu verdrängen.
Sag wo die Soldaten sind,
wo sind sie geblieben?
Sag wo die Soldaten sind,
was ist geschehen?
Sag wo die Soldaten sind,
über Gräben weht der Wind
Wann wird man je verstehen?
Wann wird man je verstehen?
Weiter Richtung Ost noch ein Friedhof, wieder mit akkurat ausgerichteten uniformen Grabsteinen. Ich folge einem Schild zu einem weiteren Monument auf eine kleine Nebenstraße. Mitten im brach liegenden Acker liegt ein weiterer, kleiner Friedhof. Ein schmaler Grasweg wurde durch das Feld hindurch angelegt. Eine niedrige Mauer umfriedet die schon bekannten Grabsteine. Ein 17-jähriger Australier liegt hier, neben weiteren namentlich nicht benannten Soldaten.
Vor einem dieser Grabsteine für die Namenlosen das verblichene Foto eines Jack Morris, daneben ein paar verwelkte Blumen und ein Union Jack. Etwas weiter dann ein eingezäunter, vernarbter und von zerzausten Bäumen bestandener Hügel. Die Anhöhe war wohl strategisch wichtig gewesen und heftigst umkämpft.
Am Zaun liegt ein Geschoss, das wohl ein Bauer beim Pflügen des lehmigen Ackerbodens nach oben befördert und hier abgelegt hat. Auch Hundert Jahre nach Beginn der Schlacht ein völlig normaler Vorgang in dieser Gegend, genauso wie das Umpflügen von Knochenresten.
Ich besuche dann noch einen weiteren Friedhof mit viel zu vielen Grabsteinen derselben Sorte, wieder in einer Akkuratesse ausgerichtet, die die Briten bei aktuellen handwerklichen Arbeiten schon lange nicht mehr hinbekommen.
Sag mir wo die Gräber sind,
wo sind sie geblieben?
Sag mir wo die Gräber sind,
was ist geschehen?
Sag mir wo die Gräber sind,
Blumen wehen im Sommerwind
Wann wird man je verstehen?
Wann wird man je verstehen?
Gräber der Verlierer (der Deutschen) habe ich hier keine gesehen.
Bei Recherchen zu Hause habe ich dann festgestellt, dass die unfassbar vielen Soldatengräber – die sich im Übrigen auch auf so gut wie jedem normalen Friedhof in der Region finden lassen – die ich auf den wenigen Kilometern meiner Erkundung angetroffen habe, lediglich einem Bruchteil der Opfer dieses Schlachtens einen Erinnerungsstein bieten.
Die Reste einer noch viel größeren Anzahl von „Gefallenen“ wurden nie gefunden oder konnten nicht einmal einer der Kriegsparteien zugeordnet werden.
Der britische Militärhistoriker Basil Liddell Hart hat den Sinn dieser und anderer Schlachten des Ersten Weltkriegs wohl am prägnantesten beschrieben: “nothing but stupid mutual mass-slaughter” (deutsch: „Nichts anderes als dummes, massenweises gegenseitiges Abschlachten“).
Sag mir wo die Blumen sind,
wo sind sie geblieben?
Sag mir wo die Blumen sind,
was ist geschehen?
Sag mir wo die Blumen sind,
Mädchen pflückten sie geschwind
Wann wird man je verstehen?
Wann wird man je verstehen?
Was das alles mit dem Thema dieser Seite zu tun hat?
Nun, der Impfstoff gegen Faschismus und Rassismus scheint ja noch halbwegs zu wirken, wohl auch weil es noch ein paar Zeitzeugen gibt.
Ansonsten scheint es in Mitteleuropa langsam gesellschaftsfähig zu werden, wieder ein bisschen national zu sein. Grenzen dicht machen, um sich gegen vermeintliche oder tatsächliche Gefahren von „außen“ zu schützen. Griechen per se als arbeitsscheue Steuerhinterzieher zu klassifizieren, Syrer als Syrer und aktuell Marokkaner als Vergewaltiger.
Nebenan mit Recht und Gerechtigkeit und Verweis auf eine relative – aber nicht absolute – Stimmenmehrheit Gesetze ignorieren und Grundrechte abschaffen, als Engländer den Brexit zu postulieren und Brüssel für alle schief laufenden Dinge verantwortlich machen, eine „nationale Front“ aufmachen im Land der Aufklärung, als Schwedennationale den Pendlerverkehr zwischen Malmö und Kopenhagen lahmlegen, gleich um die Ecke deutschsprachige Ortsschilder im dänischen Grenzland abschrauben.
Die Liste könnte noch endlos weiter geführt werden mit dem überall gleichem Tenor: simple Antworten auf komplexe Fragen geben und ansonsten abschotten und „den anderen“ die Schuld geben.
Auch wenn das Lied von Frau Dietrich eine olle Kamelle ist, die Krüppel, Kriegszitterer und sonstigen „Verrückten“ nicht mehr die Kinder auf unseren Straßen verängstigen und keiner mehr lebt, der davon erzählen kann, zu was Nationalismus (der ohne den Faschismus, also der „harmlose“) vor 100 Jahren in Europa geführt hat, kann sich niemand heraus reden, dass er / sie es nicht gewusst hätte.
Denn die Orte, an denen die Folgen – wenn auch in stark gedämpfter aber immer noch überwältigender Form – im Wortsinne spürbar sind, sind nicht weit weg. Man muss lediglich in einer nicht sonderlich schönen Ecke Mitteleuropas kurz anhalten und ein paar Meter gehen, am besten bei Nieselregen und einstelligen Temperaturen. Und dann ist man recht nah dran an der simplen Erkenntnis: wir sind Europäer, oder wir sind verloren.
Link Tipp: Schlacht an der Somme
Liebe Stefanie, ein großartiger Gastbeitrag ! Der Text, das Lied, die Fotos – bedrückend und hoffnungsvoll zugleich. Danke. Ulrike
Vieles erinnert mich an eine Frankreichreise vor wenigen Monaten – nach Verdun: die Stimmung, die Monströsität, der Schrecken der Geschichte. Ja, hoffentlich fallen wir dahin nie zurück.
(Darf ich einen Link zur Verdun-Reise setzen? https://zeilentiger.wordpress.com/2015/12/01/die-dreibeinigen-herrscher/)
Liebe Ulrike – das wollte ich Tom selbst gerade schreiben 🙂 Deinen Kommentar habe ich dabei quasi nur zufällig entdecken. Offenbar hat wordpress das schön geschickt so eingerichtet, dass nur der Autor selbst eine Nachricht bekommt. Liebe Grüße, Stefanie
Lieber Tom, danke für den tollen Beitrag. Wie gesagt: ich schließe mich Ulrikes Kommentar voll an. Nur das Lied singe ich natürlich in der Hannes-Wader-Version. Liebe Grüße, Stefanie
Whow. Das ist sehr beeindruckend.
Liebe Steffi,manchmal weiß man einfach nicht,was es noch zu sagen gäbe-ich denke, hier ist alles gesagt. Zwei Buchtipps zu diesem Thema. Beide nicht mehr ganz neu, aber immer noch aktuell: Sebastian Faulks ,Gesang vom großenFeuer und immer wieder Remarque, Im Westen nichts Neues
Stephanie: ich danke euch fürs veröffentlichen!
Danke für diesen Gastbeitrag.
»Wer an Europa zweifelt, wer an Europa verzweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe besuchen!« (Jean-Claude Juncker)
https://textundsinn.wordpress.com/2015/08/12/et-in-terra-pax/
Hier noch ein Link zu einem Plädoyer für europäische Grenzenlosigkeit von Ulrike Guérot und Robert Menasse, erschienen in „Le Monde diplomatique“ vom 11. Februar:
http://monde-diplomatique.de/artikel/!5274030