Albert Einstein, Billy Wilder, Sigmund Freud, Franz Kafka, Erich Kästner, Gottfried Benn, Bert Brecht – um nur mal einige Inselgäste zu nennen. Und allen voran Gerhard Hauptmann, der Lokalheld, der seine Sommermonate regelmäßig auf Hiddensee verbrachte. Er schrieb:
„Wiese und Meer. Meer und Wiese und Wind. Wind, Sturm und ewig brandenden donnernde Flut! Diese Eindrücke zwingen die Seele zur Einfachheit. Alles gekünstelte, alles städtisch-kulturell-aufgedrängte fällt von ihr ab. Das ist das Gesuchte, das ist das Gesunde. Aber eingeschläfert sind unsere Nerven nicht. Im Gegenteil, sonderbar aufgestört.“
Sonderbar aufgestört. Genau so fühle ich mich. Dabei wird Hiddensee gern als Insel mit Entschleunigungsgarantie bezeichnet. Es gibt auf der Insel keine Autos, keine Beachbars, keine grellen Fassaden, keine Wellnessangebote, sogar die Restaurants schließen früh.
Warum finde ich dann keine Ruhe? Warum bin ich so sonderbar aufgestört?
Hiddensee ist die einzige Ferieninsel Mecklenburg-Vorpommerns, die nicht über den Landweg zu erreichen ist. Drei höchst unterschiedliche Orte – Kloster, Vitte und Neuendorf – verteilen sich von Nord nach Süd über das 16 km lange, schmale „söte Länneken“ (süßes Land).
Kloster, am nördlichen Inselende, ist das kulturelle Zentrum Hiddensees. Im Schatten gewaltiger Bäume mixen sich Reetdachhäuser mit zerfallenen Gehöften und Villen, wie sie auch in Grunewald stehen könnten. Hier befindet sich Hauptmanns Haus Sanddorn. Und der Inselfriedhof, auf dem er begraben liegt.
Die Insel vertrüge nur einen großen Schriftsteller, soll Thomas Mann nach einem Besuch bei Hauptmann gesagt haben. Es heißt, er wäre eifersüchtig gewesen auf die Popularität seines Gastgebers unter den Insulanern. Und dann entwickelte er aus den Zügen Hauptmanns den skurrilen Minheer Pepperkorn für den Zauberberg.
Hiddensee war und ist eine Quelle der Inspiration, wie es vielleicht keine zweite in Deutschland gibt.
Maximale Dichter- und Denkerdichte
Lion Feuchtwanger, Stefan Zweig, Ernst Barlach, Rainer Maria Rilke. Es kann einem schwindelig werden angesichts der großen Namen, die eng mit der Insel verbunden sind. Sie entfachen Bilderstürme in mir, so dass ich mich fühle wie eine Hochsensible auf der Jahrestagung der Exzentriker (völlig überfordert).
Wenn ich mir nur vorstelle: Der erste weibliche Kinostar der Welt, Asta Nielsen, empfing hier Gäste wie Carl Zuckmayer und Joachim Ringelnatz. Letzerer soll zu und zu gern rotweinbetrunken & nackt durch die Ostseewellen gesprungen sein. Dem Sommerhaus seiner Gastgeberin widmete er in seinem Gedicht „Insel Hiddensee“ eine Strophe:
Steht ein Häuschen in der Mitte,
Rund und rührend zum Verlieben.
»Karusel« steht angeschrieben.
Dieses Häuschen zählt zu Vitte.
Vitte (gesprochen: Fitte) ist mit 650 Einwohnern der Hauptort der Insel. Der einzige mit asphaltierten Straßen und bekannt für seine unterschiedlichsten Baustile. Fischerhäuschen, Gründerzeitvillen, schlichte Reetdachkaten. Darunter keine Bausünden. Aber ein paar Unterlassungssünden. Morbides, um das man sich gern kümmern würde. Wenn man das Geld hätte.
Sonderbar aufgestört. Das kleine Hiddensee wartet mit allen Landschaftsformen auf, die die Ostseeküste ausmachen. Auf Steilküste folgt Sandstrand folgt Dünenheide. Schon mit dem Fahrrad ist man zu schnell, als dass der Kopf mitkommen können. Das Herz schon gar nicht. Meines jedenfalls. Zufällig sind Steilküsten, Sandstrände und Dünenheiden meine Lieblingslandschaften.
Inmitten der Dünenheide liegt der dritte Inselort, Neuendorf. Hier gibt es keine Straßen, keinen Ortskern. Nur den kleinen Hafen und Trampelpfade zwischen weit verstreuten blitzeweißen Katen und Gehöften.
Auch Neuendorf hat seinen eigenen Literaturgott. Im Gasthaus Freese kämpfte Hans Fallada mit seinen Dämonen, dem Alkohol und schrieb gleichzeitig seinen berühmten Roman „Kleiner Mann, was nun?“ Das war 1933.
Sonderbar aufgestört. So viel Zeitgeschichte auf so wenig Raum. Der Heimatforscher Kurt Dittmann wertete die Gästebücher von drei Pensionen aus der Zeit vor dem Naziregime aus.
Unter den Gästen befanden sich circa fünfzig hochrangige Wissenschaftler, mehr als zweihundert Maler, Bildhauer und Architekten und jeweils hundertfünfzig Schriftsteller, Musiker, Komponisten und Schauspieler.
Drei Achtel dieser Gäste mussten Deutschland während der Nazizeit verlassen, wurden ermordet oder begingen Selbstmord.
DDR-Zeit auf Hiddensee
Nach 1945 entdeckten viele Künstler die Insel Hiddensee wieder neu für sich. Vor allem aus dem Exil kommende Schriftsteller wie Anna Seghers. Die Tänzerin Gret Palucca besaß seit den 1960er Jahren ein Sommerhaus in Vitte. Ihr Wunsch, es möge nach ihrem Tod, zu einem Ort des künstlerischen Austausches werden, erfüllte sich nicht. Das Haus wurde 2009 abgerissen.
In den 70ern sang Nina Hagen die Inselhymne „Du hast den Farbfilm vergessen, mein Michael“. Da war sie noch „Bürgerin der DDR“ und Schlager-Interpretin. Für den Punk auf der Insel war Feeling B zuständig. Die wichtigste Punk-Band der DDR gab legendäre Strandkonzerte – mit Strom aus der Autobatterie. Möglicherweise toleriert von der SED. Sänger Aljoscha Rompe war der Sohn eines Funktionärs, der in Kloster ein Haus besaß.
Hiddensee soll ein Stück Freiheit im sozialistischen Alltag bedeutet haben. Uwe Tellkamp beschreibt im Turm das Hiddensee der 80er Jahre:
„Der Weg wurde sandig, als sie von der Hauptstraße, an der Bäckerei Kasten vorbei, in Richtung Norden abbogen. Urlauber kamen ihnen entgegen, gebräunt und aus der Zeit gefallen. Frauen in wallenden Batikkleidern, viel Holzschmuck, Armreifen aus farbigen Lederriemchen, Sandalen mit Glasperlenschnüren; pfeifenrauchende Männer mit Künstlermähnen und Jesus-Look, seltener kurzgeschorenem Haar und Proletarierjoppen à la Brecht.“
Die Bäckerei Kasten existiert noch. Sie befindet sich in Kloster. In den alten Regalschränken stapeln sich frische Brotlaibe und duftende Hefezöpfe. Beim Blick in die Backstube denkt man, es habe sich wohl nicht viel verändert, seit Hauptmann sich wünschte:
„… nur stille, stille, dass es nicht etwa ein Weltbad werde.“
Ein Weltbad ist Hiddensee nicht geworden. Doch die Literaten schreiben heute nicht mehr auf sondern von der Insel. Es gibt Stunden, in denen die Rückzugsorte knapp werden. Ein Tagesausflug gehört zum Pflichtprogramm der Feriengäste von Rügen, Stralsund, Dranske, Zingst und Barth. Ein Großteil pilgert zielstrebig den Betonplattenweg zum Wahrzeichen Hiddensees hinauf – dem Leuchtturm am Dornbusch.
In unmitelbarer Nähe liegt die Gastätte und Pension Klausner, wo das jüngste Stück Literaturgeschichte der Insel angesiedelt ist. Der Roman Kruso von Lutz Seiler sagt man, werde sich einreihen in die Werke der großen Ostseedichter. Sein Hiddensee ließe sich mit Thomas Manns Lübeck, Walter Kempowskis Rostock und Günter Grass Danzig vergleichen.
Sonderbar aufgestört. Ich glaube, ich habe einen Kultur-Schock erlitten. Es sind ja längst noch nicht alle aufgezählt, die auf Hiddensee malten, dichteten, tanzten, tranken, dachten. Genannt habe ich nur die, die mir derart im Kopf rumschwirren, dass ich nicht mal meine Fotos anständig sortieren kann.
Und das musste jetzt alles erst einmal raus, bevor ich mit ein paar Tipps um die Ecke kommen kann. Das dann im nächsten Beitrag. Und bis dahin: Ahoi!
Ahoi und danke, Stefanie. Deine „seltsam aufgestörten“ Hiddensee-Impressionen lesen sich sehr schön.
Vielen Dank, Maren. Das freut mich. Mit Deinem Hang zur Lyrik wärest Du auf Hiddensee übrigens auch echt gut aufgehoben. Komm bestens in die Woche, Stefanie
Liebe Stefanie, Captchas sind Kommentar-Killer… Wieder habe ich falsch getippt, wieder ist der Kommentar pfutsch : ) Kurz und knapp: Ich mach es dem Ringelnatz nach! Hab einen schönen, unaufgestörten Sonntagabend, Jutta
Jutta, das ist so nett, dass Du Dich ein zweites Mal bemüht hast, mich auf die Catpcha-Killers hinzuweisen. Beim ersten Mal ist es leider nur auf meine muss-ich-mich-mal-drum-kümmern-Liste gewandert (wo so Vieles wartet). Jetzt war es der nötige Anschupser, um was zu ändern. Ich hoffe, nun funktioniert es besser?! Liebe Grüße, Stefanie
Wunderbare Texte (und Bilder) von einer wunderbaren Insel… übrigens: auf Hiddensee gibt es 4 Orte. Das alte Fischerdörfchen Grieben liegt unterhalb des Leuchtturms am Bodden…
Liebe Marion,
vielen Dank für das Kompliment und den Hinweis zu Grieben.
Ich habe es im zweiten Text auch so formuliert, war mir aber nicht sicher, ob Grieben zu Kloster gehört?!
Morgens bin ich da auch mal hinspaziert. Das ist ja ganz verträumt. Und bei meinem nächsten Besuch möchte
ich da unbedingt weiter, weiter und weitergehen.
Liebe Grüße, Stefanie
Tatsächlich wird Grieben oft als Ortsteil von Kloster genannt. Aber sag mal einem Griebener er sei Klosteraner….
Liebe Grüße zurück – von Hiddensee, Marion
Hahaha. Insulaner sind schon speziell. Mich erinnert das an den Mann von der Fahrradvermietung. Als ich ihn fragte, wie weit man mit dem Fahrrad käme, sagte er, das wisse er nicht genau. Er sei schon seit mindestens 8 Jahren nicht mehr am anderen Inselende gewesen 🙂 Grüße auf die Insel, Stefanie
[…] haben wir schon auf Helgoland und Hiddensee lieben gelernt. Aber im Herbst auf Wangerooge hat das noch mal eine andere Qualität. (Im […]
Danke für diesen schönen Beitrag.
Wir sind gerade auf Rügen und fahren morgen nach Hiddensee. Vor rund zwanzig Jahren war ich auch schon einmal für eine Woche dort und habe es genossen
Liebe Gudrun,
vielen Dank für Deinen Kommentar. Und ganz, ganz viel Spaß morgen. Es soll ja ein Traumwetter werden. Ihr genießt es dann hoffentlich genauso wie vor 20 Jahren.
Liebe Grüße & Ahoi
Stefanie