Man muss sich das mal vorstellen (also, man muss sich das wirklich mal vorstellen), dass hier der Eiserne Vorhang begann. KM 0 der deutsch-deutschen Teilung. An einem Ostseestrand auf einer Halbinsel wurde das Land zerrissen, Europa getrennt, die Welt in Ost und West gespalten. Das muss man sich mal vorstellen!
Es will mir aber schwer in den Kopf, wie wir da so mit dem Fähre über die Trave schippern. Auf der Liste der bizarren Orte ist der Priwall einer der Absurdesten.
Die Halbinsel Priwall ist zu 96% von Wasser umgeben. Mit den übrigen 4% dockt sie an das Festland von Mecklenburg-Vorpommern an. Territorial gehört der Priwall aber seit Urzeiten zu Schleswig-Holstein. Genauer zu Lübeck.
Noch genauer zu Lübecks Stadteil Travemünde (der wiederum keine Anbindung an Lübeck hat sondern 20 km von der Hansestadt entfernt liegt).
Sozusagen ist der Priwall eine Enklave in der Enklave. Ein Symbol für die Willkür von Grenzziehungen. Und ein Beispiel für ihre Konsequenzen. Noch heute, 26 Jahre nach dem Mauerfall, hat man das Gefühl, dass jenseits des Priwalls eine andere Welt beginnt.
Sie ergänzen sich für unseren Geschmack perfekt.
Westlich des Priwalls: Travemünde
Das ehemalige Fischerdorf ist ein Steh-auf-Städtchen. Drei Mal ging sein Stern auf und drei Mal wieder unter. Aktuell erlebt Travemünde eine weitere Renaissance. Wie so vieles in meiner näheren Umgebung ist auch das komplett an mir vorbeigegangen.
Wie überrascht ich war, als ich im April von Timmendorf nach Travemünde wanderte! Wo ich 70er-Jahre-Spießigkeit erwartet hatte, fand ich Belle Epoque-Schönheiten am Strand und herausgeputzte Fischerhäuschen entlang der Trave.
Und selbst das Maritim hat ja schon wieder was Zeitgeistiges. Zumindest gibt es eine interessante Mischung. Die wollte ich mir noch einmal mit mehr Zeit (und Volko) ansehen. Dafür schien der vergangene Montag perfekt.
Ein Tag an dem nicht abzusehen war, wie das Wetter werden würde. Warm, bedeckt, windstill. An der Ostsee kann das bis zum Abend so bleiben. Oder ganz anders ausgehen. Und Travemünde bietet für alle Möglichkeiten ein paar Möglichkeiten.
Das Maritim markiert den Übergang vom niedlichen Travemünde an der Trave zum mondänen Kurgebiet an der Ostsee. Die Promenande ist unheimlich großzügig. Es gibt viele Freiflächen und Parks mit Meerblick. Das ist selten in Schleswig-Holstein. Trotz maximaler Feriendichte ist es alles andere als laut oder hektisch. Von der Bühne am Meer erklingt Lilli Marlen in der Hans-Albers-Tango-Version. Da kommt man ins Phantasieren.
Bereits 1802 wurde Travemünde zum Seebad erklärt. Das dritte in Deutschland nach Heiligendamm und Norderney. Das Konzept hatte man sich aus England abgeschaut. Und tatsächlich liegt ein bisschen Brighton-Feeling in der Luft. Sowie ein Hauch von Baden-Baden.
Denn die Sommergäste kamen in den 1820er Jahren vor allem wegen der neu eröffneten Spielbank. Damals noch etwas höchst Seltenes, ja leicht Anrüchiges. Dampfschiffverbindungen nach Kopenhagen, Riga und St. Petersburg sorgten für internationales Publikum. Bis die Spielbank 1872 geschlossen wurde und Travemünde in einen Dornröschenschlaf fiel.
Erst den 1920er Jahren erlebte Travemünde seinen zweiten Aufschwung. Dieses Mal gelang es mit touristischen Attraktionen wie der Travemünder Woche, Reit- und Poloturnieren, Motorsport- und Flugveranstaltungen, Kammermusik und Sinfoniekonzerten, Theater und Tanz, Feuerwerken und prächtigen Illuminationen. Das funktionierte bis die Nazis kamen.
Einen dritten Anlauf nahm Travemünde nach Ende des zweiten Weltkrieges. Das beginnende Wirtschaftswunder läutete die goldene Ära der Travemünder Spielbank ein. Bis in die späten 60er Jahre kamen die Ikonen meiner Großeltern in Scharen; Curd Jürgens, Soraya von Persien, Aristoteles Onassis, Kirk Douglas, Sophia Loren, die Kessler-Zwillinge …
Als die Konkurrenz größer und Auslandsreisen bezahlbar wurden, konnte Travemünde irgendwann nicht mehr mithalten. Doch wenn zur halben Stunde der Zug aus Lübeck am Strandbahnhof hält, bekommt man noch mal so eine Ahnung.
Da steigen ältere Damen aus. Fein zurecht gemacht, mit Stohhüten und Lippenstift in der Farbe von Korallen, ziehen sie an den Strand. Ganz Sonnenfältchen und strahlende Augen. Ich haben diesen Typ immer gemocht. Man stellt sich vor, dass sie als junge Frauen wie Tippi Hedren aussahen und Tennis-Stunden nahmen.
Doch davon gibt es nicht mehr viele. Inzwischen dominieren (wie beinahe überall) Menschen in praktischer Funktionsbekleidung. Was ich nicht abwerten will. Es bringt nur weniger Spaß zu gucken.
Und weil wir schon genug geguckt haben und der Himmel immer, immer blauer wird, wollen wir jetzt sowieso an den Strand. Nach Mecklenburg natürlich. Denn wie man weiß, liegen die schöneren Strände im Osten.
Mit der Fähre ist man in 3 Minuten da (Kostet krasserweise pro Auto 6 Euro 10.)
Im Osten nichts Neues: die wilde Schönheit von Mecklenburg
Sobald man von der Fähre runter ist, sieht alles aus wie in einem Defa-Kinderfilm. Dabei gehörte die holperige Straße über den Priwall (trotz Kiefern und Datschen) immer zum Westen. Dahinter liegt der Strand. Genauso überfüllt wie damals, als man noch nicht über die Grenze durfte.
Und das ist sehr, sehr merkwürdig, denn man müsste die Straße nur ein bisschen weiterfahren, um beinahe für sich zu sein. Sie schwingt sich in weitem Bogen zu dem kleinen Ort Pötenitz hinauf. Kurz nach dem Ortseingang befindet sich linker Hand ein Wegweiser zum Strand. Nach zwei-, dreihundert Metern gibt es die Möglichkeit, sein Auto abzustellen.
In ihrer wilden Schönheit ist die Gegend so typisch Osten. Jahr für Jahr befürchtet man eigentlich: Bald ist damit Schluss. Bald wird da was planiert. Bald kommt ein Kiosk. Ein Hotel. Öffentliche Toiletten. Oder irgendwas.
Bisher ist nichts gekommen. Nur ein Auto steht auf der kleinen Wiese, wo das Naturschutzgebiet beginnt. Dabei haben gerade alle Bundesländer Ferien.
Wir kennen das schon. Und können es doch nicht fassen.
Kann es daran liegen, dass man knappe zehn Minuten zu Fuß gehen muss, bevor man den Strand erreicht? Das scheint schwer vorstellbar. Es muss doch wenigstens ein paar Menschen geben, die das mögen. Zumal der Weg durch ein traumhaftes Naturschutzgebiet führt. Allein das Zirpen der Grillen!
Früher war das hier Sperrgebiet. Die ersten zwanzig Kilometer der DDR-Ostseeküste durften nicht betreten werden. Nicht mal in die Nähe durfte man.
Vom Westen war nur das Maritim zu erkennen. Was wahrscheinlich niemanden vom Hocker gerissen hat. Sie ja auch nicht anders aus als das Hotel Neptun in Warnemünde.
Nach einigen Minuten landet man am alten Grenzweg; heute ein beliebter Radweg. Aber auch die Radfahrer haben offenbar nichts für den Strand von Pötenitz übrig. Er liegt gleich hinter dem schmalen Waldstreifen. Ganz einsam liegt er da. Wie aus einer anderen Welt.
Wenn ich ohne größere Anstellerei in die Ostsee tauche, dann ist August. Im August ganz allein in der Ostsee zu schwimmen, hat etwas Surreales für eine Schleswig-Holsteinerin. Da paddelt man also so herum. Gegenüber von Travemünde. An einem Strand, der 40 Jahre verboten war. Man muss sich das mal vorstellen!
Aber das ist schwer in dieser Idylle. Ich bin übervoll an Eindrücken, als mich auf mein Handtuch lege. Im Hintergrund rauscht die Ostsee und über mir der Wind in den Bäumen. Und dann schlafe ich ein.
Hehe, du schreibst aber gerade eine Menge toller Beiträge, Stefanie! An diesem begeistert mich besonders, wie gut es dir gelingt, die ganz unterschiedliche Atmosphäre diesseits und jenseits der Trave einzufangen. Liebe Grüße!
Danke, Maren. Freut mich sehr Dein Kompliment. Liebe Grüße zurück.
Irgendwie mag ich Travemünde, obwohl ich nicht mal genau weiß warum. Aber wann immer man dorthin kommt, es fühlt sich irgendwie gut an. An der anderen Seite liebe ich die Ursprünglichkeit und das es dort „noch“ so viel Natur gibt. Schöner Beitrag. 😉
Geht mir auch so. Dabei ist mir die Kurpromenade an der Ostsee lieber als die Einkaufsmeile an der Trave. Für Urlauber finde ich aber beides ganz toll. Travemünde ist ein richtiges Ferienstädtchen. Liebe Grüße, Stefanie
Da war ich auch. Da war ich auch im August 2015. Musste den Priwall von Ost nach West ab schnuppern. War richtig toll. Und das große Nass da hat mir auch gut gefallen. Aber als ausgewiesene Landratte hab ich die See gemieden, natürlich, ganz natürlich!
Das kann ich nur mit einem lauten WUFF beantworten!
[…] Hier lautet die Antwort: Kurz hinterm Priwall, direkt gegenüber von Travemünde bei Pötenitz. […]
[…] als mit dem Bus nach Gothmund. Von hier sind es nämlich nur noch 12 (ausgeschilderte) km bis nach Travemünde. Da liegt der Strand von Lübeck – eines der größten Freiluftvergnügen überhaupt. Aber […]
[…] Vom Priwall aus ab in die herrliche Einsamkeit von Pötenitz. […]