Der Sommer flog vorbei. Und seit ich nun wieder häufiger auf dem Sofa bleibe und lese, habe ich viel an Grærup gedacht; ein kleines Ferienhausgebiet an der Nordseeküste Jütlands. Es scheint mir am ehesten vergleichbar mit den Naturbeobachtungen Henry Bestons, der 1926 »Das Haus am Rand der Welt« bezog.
Schwer erschüttert von seinen Erfahrungen im ersten Weltkrieg entwickelte Beston ein tiefes Bedürfnis nach Frieden und Einsamkeit. Beides fand er auf Cape Cod. Dort ließ er sich, auf einer hohen, entlegenen Düne ein Sommerhaus bauen. Eigentlich wollte er bloß Ferien machen. Aus den geplanten zwei Wochen wurden am Ende zwei Jahre. Er verbrachte sie damit, Notizbuch auf Notizbuch mit seinen Beobachtungen zu füllen. Er beschreibt Stürme, Seevögel, Sandflug, Vegetation und ab und zu ein Treffen mit den Männern von der Küstenwache. Damit begründete er das neue Genre des Nature Writing.
Das Buch ist auf gewisse Art ziemlich langweilig. Ich schlafe regelmäßig beim Lesen ein. Es ist beinahe, als würde der Autor mir den Frieden schenken, den er in Massachusetts fand. Keine Ahnung, ob die von Beston beschriebene Abgeschiedenheit heute auf Cape Cod noch zu finden ist. In einem dicht besiedelten Land wie Deutschland gibt es sie an den Küsten jedenfalls nicht mehr. Und denke ich von Hamburg aus, wäre der nächst erreichbare halbwegs «einsame« Strand Grærup, 332 Kilometer nördlich meiner Haustür.
Ich entdeckte das kleine Ferienhausgebiet im vorvergangenen Sommer. Man kann es wohl leicht übersehen. Jedenfalls platzte der Strand nicht gerade aus allen Nähten, was im August in den benachbarten Orten Vejers und Henne Strand durchaus der Fall ist. Seit dem war ich noch zwei weitere Male dort und stellte fest: in Grærup ist mir wirklich ganz egal, ob es regnet oder die Sonne scheint, ob es Frühling oder Herbst ist, warm oder kalt.
Nur in Dänemark erlebe ich, was zufriedenere Menschen ständig fühlen: jede Jahreszeit ist wunderbar. (Ich kann das für Norddeutschland ehrlich gesagt nicht flächendeckend unterschreiben). Und wenn ich Dänemark schreibe, dann meine ich genau genommen bloß Jütland. Und wenn ich Jütland meine, dann poppt ehrlich gesagt auch nur der 400 Kilometer lange Nordseestrand vor meinem inneren Auge auf, begleitet von unendlichen Dünen, in die sich Traumhäuschen kuscheln. Ich meine das nicht despektierlich den anderen Regionen gegenüber. Doch zwischen mir und der dänischen Westküste läuft was ganz Besonderes.
In Graerup ist mir die Jahreszeit egal
Die besondere Beziehung ist allerdings einseitig. Denn während es für mich nichts schöneres als Jütlands Westküste gibt, bin ich für die Westküste Jütlands nur eine unter Millionen. Denn es geht ja Vielen wie mir. Glücklicherweise ist die Nordsee gewaltig genug, um uns alle glücklich zu machen. Obwohl wir sehr unterschiedliche Wünsche haben. Und der südlichste Punkt, an dem sich alle meine jederzeit erfüllen, ist Grærup.
In Grærup gibt es keinen Kaufmann und wenn man etwas besorgen muss, ist der Weg zum nächsten ganz schön weit. Er führt durch´s größte militärische Übungsgebiet Dänemarks, was nicht besonders idyllisch klingt, aber durchaus ist, denn durch eben dieses ziehen auch die größten Rotwildrudel des Landes. Sie sind direkte Nachkommen der ursprünglichen Rothirsche, die in der letzten Eiszeit einwanderten.
Außerhalb der Saison radelt man schon mal ganz allein auf dem Rundkurs, der sich als Panoramroute 405 um die Dünenheide zieht. Auf ihr gelangt man am Grærup Havvej zu einem Aussichtspunkt mit beinahe Sichtungsgarantie.
Zugegeben: eine Fernsichtungs-Garantie. Die Schutzflächen sind großzügig gehalten, um den Tieren echte Rückzugsräume zu lassen. Ihre Lieblingsplätze befinden sich an den Dünenseen. Ganz entspannt äsen die Hirsche dort unter Kiefern oder statten den Robustrindern auf den Weiden nebenan einen Besuch ab. Es ist schon erstaunlich, wie friedlich es auf einem Truppengelände zugehen kann.
Und weil das so ist, ist Grærup zwischen Oktober und Mai sicher nichts für Leute, die gern viel ausgehen oder neue Bekanntschaften schließen. Es sei denn, sie würden gern Hirsche kennenlernen. Denn es kann geschehen – vielleicht wenn man gerade auf einer Düne die herbschöne Landschaft bewundert – dass ein mächtiger Hirsch aus den Bäumen tritt. Beinahe ohne Scheu. Dann muss man widerstehen. Nicht hektisch nach dem Smartphone tasten. Sondern den Augenblick gedanklich festhalten.
Das Haus am Rand der Welt ist im mare Verlag erschienen und genau das richtige für stürmische Zeiten.
Wer Jütland das ganze Jahr über liebt, findet vielleicht auch Gefallen an (und mehr über u.a. Grærup in) unserem neuen Buch: 52 kleine & große Eskapden im Südwesten von Dänemark. Wie so vieles, habe ich in diesem schnellen Sommer auch nicht geschafft, das Buch hier vorzustellen. Mach ich aber. Mach ich aber noch. Und dann gibt´s natürlich auch wieder ein Exemplar zu gewinnen. In der Zwischenzeit verlinke ich gern auf die Rezension von Kai auf Weites.Land
Ich glaube,sowohl das Buch als auch die dort beschriebene Landschaft sind genau meine Kragenweite.
Gerade in der heutigen Zeit ist nichts wichtiger als Frieden,ich selbst habe unfreiwillig gedient und ebenfalls daraus meine persönlichen Rückschlüsse gezogen:
Ich bin Kriegsgegner und Pazifist und lehne jede Art von Gewalt und Waffen ab.
Ich freue mich aschon auf die nächste Runde Einsamkeit,pünktlich zu meinem 60sten Geburtstag geht es wieder nach Hallig Lüttmoor.
Viele Grüße und bleibt bitte alle gesund
Ralf
Ich kann Deine Empfindungen zum Aufenthalt in den Dünen entlang der dänischen Nordseeküste sehr gut nachvollziehen. Unser persönlicher Sweetspot liegt ein Stück weiter nördlich in Norre Vorupor im Nationalpark THY. Seit nunmehr fünf Jahren verbringen wir dort im September/Oktober eine ausgesprochen friedliche gute Zeit, ganz so, wie Du es auch beschrieben hast, immer im selben Haus.
Ich bin gewiss kein Militarist, aber mit der von Schaf Fan beschriebenen Haltung wird man dem Despoten aus dem Kreml nicht beikommen. Wer selbst die wenigen zum Schutz der Zivilisten im Krieg geltenden Regeln mit Füßen tritt, muss notfalls mit militärischen Mitteln gebremst werden, sonst wird es selbst mit friedlichen Zeiten in Dänemark in Zukunft nichts mehr. Wir waren im vergangenen Spätherbst noch auf Gotland. Wenige Wochen später der Überfall auf die Ukraine, russische Kampfjets vor der Ostküste und schrille Töne aus dem Kreml: „Wer Gotland hat, beherrscht die Ostsee!“ Die Situation in den von uns geliebten skandinavischen Gegenden ist alles andere als ungefährlich.
Ich verweise mal auf Martin Luther King jr und Mahatma Gandhi,die haben mit Gewaltfreiheit sehr viel erreicht.Es kann nicht sein,daß Menschen auf Menschen schießen,ich lehne das jedenfalls ab und würde bei einem eventuellen Verteidigungsfall auch den Kriegsdienst verweigern
Nun, eigentlich gehört diese Diskussion nicht hier hin.
Aber ich mag das nicht so stehen lassen.
Zum einen ist es nicht richtig, dass man unfreiwillig dienen musste. Ich habe selbst Zivildienst gemacht und das war ein Dienst, den ich sehr sehr gerne gemacht habe.
Zum anderen bin ich auch Pazifist. Und doch muss man auch einmal die Situation mit Hitler vergleichen. Der war weder durch Friedensangebote noch durch Pazifismus zu stoppen. Millionen zum großen Teil grausam getötete Menschen waren die Folge. Selbst Pazifisten und Christin wie Dietrich Bonhöfer sahen nur noch den Tod des Führers als einzige Chance. Und ehrlich, ich bin den Menschen dankbar, die sich diesem Regime auch mit Gewalt entgegengestellt haben.
Ich habe in Russland wie in der Ukraine gearbeitet und liebe Russland sogar mehr als die Ukraine. Aber die Menschen, die in russischer Besatzung leben sind dankbar für die Menschen, die sie befreien.
Auch als Pazifist kann man zum Täter werden, wenn auch passiv. In diesem Fall bin ich fest davon überzeugt, dass wir Menschenleben retten durch eine starke Verteidigung. Denn wenn Russland hier gut raus kommt, brennt Taiwan. Die nächste Demokratie. In der Du ja auch lebst. Und wenn es dort Erfolg hat, dann auch woanders.
Und ich bin mir sicher, dass, wenn Du persönlich überfallen wirst, dankbar bist für die bewaffneten Polizisten, die sich unter Einsatz ihres Lebens dem Täter in den Weg stellen.
Gute Ansichten,denen ich größtenteils zustimme.
Ich hatte wegen meiner Wirbelsäulen-Erkrankung gedacht,daß ich mittels Attest ausgemustert würde,aber Anno 1983 haben die scheinbar jeden genommen,auch einen wie mich mit dem Körperbau des Glöckners von Notre Dame.
Daher mein Argument des unfreiwilligen Dienens,denn ich hatte darauf nachweislich keine Lust.
Also habe ich mich -vor allem bei Schießübungen – regelmäßig krank gemeldet.
Wir können uns gerne – bei Interesse- per eMail austauschen.
Grüße
Ralf
Hallo, Ihr Lieben.
Schön, endlich mal wieder was hier zu lesen. Habt Euch eine schöne Ecke ausgesucht. Wir fahren übernächste Woche wieder dort hin. Früher war ich oft mit dem Rad durchs Übungsgebiet gefahren. Die Übungshäuser haben eine ganz eigene Ausstrahlung. Und genauso die Bäume im frühen Sonnenaufgang oder bei Mondlicht. Vielen Dank fürs Verlinken. Eure Eskapaden kommen auf jeden Fall mit auf Tour:-)
Liebe Gedanken.
Kai
Ich wohne ja nun seit 29 Jahren in Dänemark, 9 Jahre davon in Jütland, und ich muss sagen, dass mir Jütland sehr gut gefällt. Es gibt dort so viele verschiedene Landschaftstypen. An der Westküste habe ich beobachtet, dass die Strände, wo weder Toiletten noch ein Kiosk/Eisladen sind, am wenigstens besucht werden. Total überlaufen sind die Strände, wo man ohne Probleme mit dem Auto fahren kann.
[…] Grærup ist mein Favorit in Syddanmark für einen Urlaub zu Zweit. Das gilt im Sommer wie im Winter. Jedenfalls, wenn man sich ganz gut versteht und gern miteinander allein ist. Mehr dazu hier. […]