Forscht man im Netz nach der Elbmündung spucken die Suchmaschinen zu 99,9% Ergebnisse aus, die sich mit Cuxhaven und „um zu“ beschäftigen, ganz so als würde es kein nördliches Ufer geben. Dabei war dieser Küstenabschnitt von Schleswig-Holstein mal eine echte Vorzeigegegend. Jedes Kind in Deutschland kannte den Namen der Köge. Und da kann man mal sehen: Ruhm ist vergänglich. Selbst der größte Teufel von allen wird nach einer gewissen Zeit zum Typen mit dem Schnurrbart. So jedenfalls nannten ihn zwei Jugendliche, die sich über Adolf Hitler unterhielten, dessen Name ihnen partout nicht mehr einfallen wollte. Eine Freundin belauschte diese Unterhaltung in einem Schnellrestaurant. Es gibt doch seltsame Sachen.
Zum Beispiel das südliche Dithmarschen, wo sich Elbe und Nordsee im etwa gleichen Verhältnis mischen wie Menschen mit Schafen und man selbst an einem Sonnabend im August ziemlich für sich sein kann. Genau danach war mir vergangenes Wochenende.
Ich erreichte die Wasserkante mit dem vagen Plan, in Brunsbüttel ein Rad zu leihen, um die Küste hinauf zu treiben, entschied mich letztlich aber, mit dem Auto weiterzufahren. Denn das Barometer stand mal wieder auf „extrem veränderlich“.
Das Gefühlsbarometer hingegen zeigte „ganz klar Nordsee“ an, denn die Elbe weitet sich hier auf bis zu 18 km und hat mit einem Fluss nicht mehr viel zu tun. Ich passierte einen Ort namens „Mühlenstraßen“ und den kleinen Hafen von Neufeld, bevor ich in die Welt der Köge eintauchte.
Die erste Badestelle entdeckte ich im Kaiser-Wilhelm-Koog, über dessen Namensgeber sich auch allmählich der Mantel des Vergessens schlingt. Das habe ich von dem Ausbilder einer Marmeladenfabrik erfahren. Er erzählte mir, er würde sich seit einiger Zeit sparen, das Allgemeinwissen der Bewerber zu testen, konkret seit einer auf die Frage „Wie hieß der letzte deutsche Kaiser?“ mit „Franz Beckenbauer“ antwortete. Das war im Grunde ziemlich pfiffig, sagte der Ausbilder und wenn man ehrlich ist: Man muss ja auch nicht alles wissen, so lange man nur weiß, wo man nachschlagen kann.
Was ist was: Köge (bei näherem Interesse klicken)
Köge sind neues Land. Der Nordsee abgetrotzt. Der ehemalige Meeresboden ist flach wie ne Flunder. Und je jünger ein Koog desto kleinwüchsiger die Bäume, von denen es ohnehin nicht allzu viele gibt. Meist wachsen sie nur rund um die eher funktionalen, sehr weitflächig gestreuten Bauernhöfe. Spezielle im südlichen Dithmarschen ragen dafür gewaltige Windräder aus der Ebene auf wie finstere Kampfmaschinen in einem Star Wars Streifen.
Und was nun die Badestelle im Kaiser-Friedrich-Koog betrifft: Ich hatte vielleicht noch nie in meinem Leben etwas Trostloseres gesehen! Bis ich an der Badestelle im benachbarten Dieksanderkoog einen zweiten Versuch wagte.
Badestellen an der Elbmündung
Badestellen an der Elbmündung sind anders. Auf der Plusseite: Besucher werden gebeten, Schafe umzudrehen, falls sie mal welche in Rückenlage entdecken. (Schafe kommen nämlich von selbst nicht wieder auf die Beine).
Auf der Minusseite: alles andere; inkl. der erste Meerblick – normalerweise ja ein wunderbarer Moment.
Falls jemanden interessiert, was auf dem Schild neben der Dusche steht, bitte sehr:
Hier vor dem Deich ist das Watt recht schlickig. Man versinkt bis über die Knöchel. Für die Natur ist das Schlickwatt sehr wertvoll. Es enthält viele organische Teilchen.
Traumhaft, nech?! Während ich da so durch die Wiesen stiefelte, kam mir alles ganz unwirklich vor. Noch am Vortrag hatte ich im südlichen Osten gearbeitet, wo die Menschen geschützt von idyllischen Weinbergen Sommerkleidung tragen und auf dem Markt Pfirsiche aus dem eigenen Garten angeboten werden.
Und jetzt stand ich also hier, auf einem Stück Land, das erst seit guten 70 Jahren existiert und hörte nichts als den Wind, sah keine Menschenseele weit und breit und in sehr weiter Ferne – vielleicht über Trischen – tanzten Vogelschwärme ihre perfekten Formationen. Auf eine schräge Art gefiel mir das. Doch es schien unvorstellbar, dass einmal ganz Deutschland voller Stolz auf diesen Koog geblickt hatte und jedes Kind den Namen kannte.
Neuland an der Elbmündung: der Adolf-Hitler-Koog
Er war der Musterkoog, der erste von 43 geplanten, in denen die Nazis 14.000 „germanische Bauern“ ansiedeln wollten. Es war mal wieder so eine fixe Blut-und-Boden-Idee. Sie wurde fallengelassen, nachdem auf Eiderstedt zwei weitere Musterköge (Hermann-Göring-Koog und Horst-Wessel-Koog) Unsummen verschlungen hatten.
Beim ersten Koog brüsteten die Nazis sich noch über die Maßen. Es wurde jede Menge Propaganda betrieben, mit Filmen und Schriften und markigen Sprüchen wie „Volk ohne Raum schafft Raum“ u.ä. Lügen. 92 handverlesene Siedler, meist Angehörige der SA oder SS, sollten das Land bestellen. Als zentraler Versammlungsort wurde die Neulandhalle errichtet.
Zur Grundsteinlegung ließ der Typ mit dem Schnurrbart sich eigenes im offenen Wagen von Kiel an die Elbmündung kutschieren. Und wer die Weite und Einsamkeit der Westküste kennt, der findet die Vorstellung vielleicht genauso lächerlich wie ich. (Lächerlichkeit scheint mir überhaupt der große gemeinsame Nenner aller Despoten zu sein.)
Noch lohnt sich ein Abstecher zur Neulandhalle höchstens für Liebhaber von Lost Places. Das Gebäude steht leer. Doch schon bald soll die Anlage endlich in einen Lernort zur kritischen Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus verwandelt werden. (Aktualisierung: Im Mai 2019 wurden die Pläne verwirklicht. Mehr dazu hier.) Träger sind Kirche und Land. Der Bund stellte zunächst eine Beteiligung in Aussicht, kam aber nach zweijährigem Überlegen zu dem Schluss, dass ihm die Sache exakt 0 Euro wert ist.
Warum die Bundesregierung das Vorhaben nicht bezuschusst (entgegen jeglicher Logik und dem gesunden Menschenverstand), habe ich ebenso wenig in Erfahrung bringen können, wie den exakten Punkt, an dem die Elbe endet und die Nordsee beginnt. Doch ein kleines Stück die Küste hinauf – in Friedrichskoog – entdeckte ich, dass der Deich südlich des (aufgegebenen) Hafens Elbdeich heißt und nördlich davon Seedeich. Also ist es vielleicht genau hier.
Ich lief vom Hafen Richtung Elbmündung/Nordsee, bis der Zaun eines Vogelschutzgebietes meinem Ausflug ein Ende setzte.
Als ich dort angekommen war, waren sämtliche Anstrengungen der vergangenen Arbeitswoche von mir abgefallen. Und so soll das sein, an einem Sonnabend im August.
Wieder einmal Danke, Stefanie. Danke für den tollen Text und die super Fotos.
Aber bei allem Idealismus: Die deutsche Nordseeküste (mit Ausnahme der Inseln) ist schon irgendwie trostlos. Da fährst Du und fährst, kraxelst den Deich hoch und siehst kein Wasser sondern nur Schlick. Eklig.
Ab Sylt, Rømø, Mandø, Fanø nordwärts wird’s dann schön. Weiße, ultrabreite Sandstrände, auf denen (in Dänemark) z. T. sogar Buslinien verkehren. Aber eines haben sie immer gemeinsam – egal ob St. Peter Ording oder Hvide Sande: Man muss immer so weit zum Wasser laufen. Und das ist mit seinen Strömungen nicht ungefährlich.
Da ist mir Ostsee irgendwie lieber – nicht so rau, das Wasser haut nicht ab, man kann gefahrlos segeln. Klar, so eine Art Gezeiten gibt es auch, aber nur weil der Wind das Wasser mal nach Osten, mal nach Westen schiebt. Kurzum: „Seele-baumeln-lassen“ geht aus meiner Sicht besser an der Ostsee.
Lieber Rainer, ich muss auch sagen, dass die Ostsee unterm Strich „schöner“ ist. In manchen Buchten so bezaubernd, dass es mich total gefangen nimmt. Das passiert an der Nordsee – abseits der Sandstrände – nicht. Aber an Grünstränden mag ich eben gerade das. Mir ist, als ob diese Landschaft nichts von mir will. Da kann ich mich ganz auf mich konzentrieren. Um´s mal mit Hans Albers zu sagen: In meinem Herzen, Schatz, da ist für viele Platz. Also Meeresufer, meine ich. Liebe Grüße und vielen Dank für Deinen langen Kommentar, Stefanie
Liebe Stefanie,
die Nordsee hat doch irgendwie Poesie, oder?
Und eine ganz spannende und vielfältige Geschichte. Aber man sich sich auf dieses Land einlassen.
Im gegensatz zu Rainer Zufall finde ich die Nordsee alles andere als trostlos und abstoßend.
Vielmehr vielfältig und sinnlich und weit.
Gerade an der Nordsee gibt es meinen ganz persönlichen Rückzugsort, der mir bei jeder Jahreszeit und Witterung Raum bietet, meinen Gedanken und Gefühlen ganz frei ihren Lauf zu geben.
Genauso spannend sind die Menschen, die durch diese Landschaft geprägt wurden und dieses Land geprägt haben.
Was auch ganz spannend ist: kaum woanders klaffte die Lücke zwischen totaler Befürwortung und krasser offener Ablehnung um dem großen Teufel größer als entlang dieser Küste.
Viele Grüße
Kai
Ja, Kai, die Geschichte finde ich auch irre spannend an der Westküste. Weil das so ein eigener Mikrokosmos ist – und immer extrem. Ich werde garantiert als eine der ersten die Neulandhalle besuchen, wenn alles fertig ist. Die Nordsee ist Poesie!? Den Satz nehme ich mal mit, wenn ich übernächste Woche nach Nordfriesland reise…. Danke für die Inspiration und ein schönes Wochenende, Stefanie
Toller Beitrag!
Ich war letztes Jahr im geschlossenen Hafen von Friedrichskoog. Naja, davor – ganz rein hab ichs nicht geschafft. Aber ist wirklich eine schöne Ecke. Ich will mal im Winter nach Brunsbüttel segeln und von dort mit dem Rad die Küste entlang.
Und.. das was da vor den Koogen liegt nennt sich doch Dithmarscher Wattenmeer. Da kann das doch kein Fluss sein! Zumindest auf einem Boot ist das Dithmarsche Wattenmeer ein richtiges Wattenmeer und überhaupt kein Flussrevier. Wassertiefen, Gezeiten… alles ganz anders. Schade das es für mich von Cuxhaven aus praktisch unerreichbar ist. Und das obwohl es so nahe liegt…
Viele Grüße,
Sebastian
Ahoi, Sebastian, im Winter nach Brunsbüttel ist ja schon wieder schön schräg. Darauf bin ich total gespannt. Wie ich gesehen habe, fährt die Fähre nach Cuxhaven jetzt ja doch wieder. Das ist bisher gar nicht bei mir angekommen – aber das verbietet sich vermutlich für einen Segler?! Wie das genau mit der Elbmündung ist, weiß ich wie gesagt nicht. Nur dass der Deich südlich von Friedrichskoog eben Elbdeich heißt. Bleibt Euch denn die Möglichkeit offen, vor Friedrichskoog anzulegen? Oder wird das auch irgendwann versanden? Grüße, Grüße, Stefanie
Das mit dem Koog habe ich nicht gewusst. Ich kenne nur Polder : ) Und dass die Schafe in Brunsbüttel keine Berührungsängste habe, das ist mir auch neu. Aber ich war ja auch noch nie in Brunsbüttel. Woanders laufen Sie immer vor mir weg, wenn ich ein Foto schießen will. Sehr ärgerlich das! Als ich die Überschrift las, dachte ich übrigens zuerst an einen Charakter aus den Mumin-Geschichten … Aber das hier ist genauso drollig! Guten Start in die Woche! Jutta
Polder kannte ich wiederum gar nicht 🙂 Aber man lernt ja nie aus. Und in Brunsbüttel ist man ganz froh, dass die Schafe nicht so schüchtern sind – viel anderes gibt´s dort ja nicht zu fotografieren. (Allerdings ist das gerade das Schöne.) Liebe – hochsommerliche – Grüße aus Hamburg, Stefanie
Toller Beitrag, liebe Stefanie. Im Kaiser-Wilhelm-Koog standen die erste „Kampfmaschine“, der Growian, der vor genau dreißig Jahren stillgelegt wurde.
Und sag mal, wird aus Koog nicht Köge, wenn man über mehrere spricht? So, wie die Einwohner eines Kooges Köger sind? Liebe Grüße aus dem Koog (dem Wesselburener), Ulrike
Oh Schreck. Da hast Du Recht, lieber Kögerin, – ich habe es gleich mal geändert 🙂 Vielen Dank für den Hinweis. Und liebe Grüße, Stefanie
Oh wie schön ist das denn……genau auf der Ecke Neufeld war ich schon sehr oft, bei der Stiefomi meines Mannes, die leider seit ein paar Jahren im Himmel ist. Seitdem war ich nicht mehr da, aber Deine schönen Bilder wecken schöne Erinnerungen in mir. Die Geschichte der Kooge/Köge oder wie auch immer 😉 finde ich toll und spannend und solange die Schafe noch Locken haben, ist die Welt dort an der Küste in Ordnung.
Vielen lieben Dank <3 Ich schwelge jetzt noch ein bißchen in Erinnerungen <3
Liebe Ilona – ich könnte mir vorstellen, dass sich in den letzten Jahren wenig dort verändert hat. Mit Ausnahme der tollen Hofläden. Die scheinen mir sehr zeitgeistig. Die Geschichte finde ich auch so superspannend; ich freue mich echt schon auf die Verwandlung der Neulandhalle.
Der letzte Kaiser Deutschlands war also Franz Beckenbauer? Bei der Antwort hätte ich auch aufgegeben, glaube ich. ?
Mir geht es so wie Dir, die Ostsee liegt mir eher am Herzen. Aber Du hast recht, an der Nordsee kommt man besser zu sich selbst. weil sie nichts von einem will. Genau so empfinde ich das auch.
Danke für Deinen schönen Berichtt, ganz besonders für das Foto mit dem Schaf ohne Berührungsängste. Köstlich! ?
[…] entlegene Gegend, umspielt von Nord-Ostsee-Kanal, Elbe und Nordsee und für mich persönlich die schnellste Art, vollkommen zu entstressen. Hier gibt es nämlich so gut wie gar nichts. Davon jedoch jede […]
[…] Wochen urplötzlich einfach von einem abfällt, als wäre nichts gewesen. Das funktioniert an der Elbmündung genau wie an der Eider. Oder irgendwo […]
[…] ich vor zwei Jahren die unglaubliche Geschichte der Neulandhalle auf einer verblichenen Infotafel zu entziffern versuchte, war die Kultstätte der Nazis noch ein […]
[…] Nordseeküsten-Radweg. Denn der schneidet das Tollste der Gegend ab. Besser lässt man sich an der Elbmündung nach Friedrichskoog treiben. (Diese Tour sei durchaus auch Autofahrern […]