Tag 2 im Lake District: Der erste Morgen an einem fremden Ort, gehört für mich zu den schönsten Momenten auf Reisen. Kein vernünftiger Mensch springt so früh aus dem Bett wie ich. Darum kann ich das Neue meist ganz ungestört auf mich wirken lassen. In Bassenwaithe sieht vorm Fenster schon mal alles recht vielversprechend aus. Nix wie raus also in die Frühlingsfrische.
Am ersten Morgen an fremden Orten war ich schon geschockt vor Schönheit, euphorisch vor Glück, beschwingt, entspannt, dankbar und sogar demütig. Aber so etwas wie heute habe ich noch nie erlebt. Sobald ich mich ins Unterholz geschlagen habe, schießen mir nämlich Tränen in die Augen. Es ist ein Gezwitscher, Gekrächze, Gepiepse und ein Singen in den Gärten von Bassenfell Manor, wie ich es noch nie zuvor gehört habe. Nicht einmal in den Dschungeln von Afrika, Asien oder Südamerika.
Warum man Engländer lieben muss
Engländer sind ganz verliebt in Vögel. Ich habe das mal in einem Zeitungsinterview mit einem englischen Autoren erfahren, der sich für eine Lesereise in Hamburg aufhielt. Zu seinem Hamburger Lieblingsort erklärte er ausgerechnet Rahlstedt. Denn dort hatte er einen bestimmten Vogel über längere Zeit beobachten können. Ich finde, das sagt viel.
Im Lake District stößt man allerorten auf Bird Bistros – Futterstationen, in denen quasi jedem Vogel seine Leib- und Magenspeise kredenzt wird. Engländer sind auch nicht herzlos zu Tauben. Rund um die Seen werden die grauen Tauben genauso gefüttert wie die weißen, von denen es hier übrigens richtig viele gibt.
Für mich ist der Tag schon jetzt ein Geschenk – dabei ist es noch nicht einmal 07.00 Uhr. Und weil der frühe Vogel bekanntlich den Wurm fängt, machen wir uns schon richtig früh auf den Weg. Als erstes Ziel haben wir uns den Honnister Pass gesetzt. Dafür müssen wir einen See weiter. Bei Keswick biegen wir auf die Uferstraße des Derwent Water.
Uns dämmert das große Dilemma des Lake District-Reisenden: Wie soll man sich hier bitte entscheiden? Anhalten oder weiter fahren? Links abbiegen oder rechts? Wir entscheiden uns, am Honnister Pass festzuhalten. Immer das Nase nach also. Und der Derwent Water wandert auf unseren morgigen Tagesplan.
Im 19. Jahrhunert kamen die Engländer auf die Spitzenidee Kiefern anzupflanzen. Kiefern sind ja toll. Sie lösen bei mir immer Urlaubsgefühle aus. Und wie gut passen sie zu dieser Straße, die sich zunächst durch das unfassbar schöne Barrowdale in die Fells windet. (Fell – Ein sprachliches Erbe der Wikinger, von denen übrigens knapp 80% der Einwohner in den Lakes abstammen.)
Ich bin sehr zufrieden damit, dass Volko aus dem Schwarzwald kommt! Anfahren am Berg hat er in der Fahrschule als allererstes gelernt. Ich kann schon mal jetzt verraten, dass ich im Lake District nicht ein einziges Mal Auto gefahren bin. (In Irland schon; sogar in Dublin – also am Linksverkehr lags nicht.)
Ähnlich wie bei den großen Geschwistern in Skandinavien, setzt die Baumgrenzen in den Cumbrian Fells früh ein. Innerhalb von Minuten hat man das Gefühl unendlicher Weite. Der Blick zurück wird immer besser.
Die Honnister Slate Mine ist die letzte Miene Englands, an der noch Schiefer abgebaut wird. Sie bietet gleichzeitig auch die einzige Möglichkeit auf dem Honnister Pass erlaubt zu parken.
Obwohl es nicht windig ist, wechseln Sonne und Wolken wie der Blitz. Das sind tolle Eindrücke.
Von hier geht es nur noch zu Fuß weiter.
Ich bin aus Schleswig-Holstein. Vor Bergen habe ich derben Respekt. Aber ich gebe zu, dass sie ihre Vorzüge haben. Zum Beispiel dass man jederzeit einen Blick zurück werfen kann. Dann ist man so mega-stolz auf das, was man schon geschafft hat (zumindest als Nordlicht).
Die Perspektiven sind für mich allerdings ungewohnt. Ich hätte schwören können, vor mir läge ein gewaltiger Gipfel.
Dabei ist es nur ein Schieferhaufen.
Beeindruckender ist wieder der Blick zurück.
Insgesamt ist der Wanderweg an der Honnister Slate Mine eine feine Sache für Bangbüxen.
Der Weg ist selbst mir breit genug – die Ausblicke sind galaktisch.
Man muss auch nicht auf einen schwindelerregenden Gipfel klettern – sondern gelangt zu einer Hochebene, die ausgerechnet meinen Lieblingsduft aufgelegt hat: Heidekraut.
Natürlich könnte man jetzt einen Gipfel in Angriff nehmen. Stundenlang könnte man weiter. Aber man kann sich auch einfach zu den Schafen setzen und den Moment genießen.
Hinunter nehmen wir den echten, den schwierigeren Wanderweg. Falls das mal einer nachmachen möchte: Hier braucht man dringend Wanderschuhe (man sollte ohnehin nicht ohne Wanderschuhe in den Lake District reisen).
Die Abfahrt des Honnister Passes Richtung Buttermere weist ein anständiges Gefälle auf: 25%.
Die beste Zeit im Lake District
Unten im Tal warten das Bilderbuchdorf Buttermere und der gleichnamige Bilderbuchsee.
Es ist mir ein komplettes Rätsel wie eine Landschaft trotz kahler Bäume so lieblich sein kann. Etwas Harmonischeres, da sind Volko und ich uns einig, haben wir noch nie gesehen. Mir ist sogar so, als wäre der März der schönste Monat, um den Lake District zu besuchen. Es passt zu dieser Gegend, dass alles ganz kurz davor steht, sich zu entfalten. (Vermutlich tut es der Schönheit auch keinen Abbruch, wenn sich die Wiesen im Mai und Juni in hellgrüne Meere mit knallbunten Blumeninsel verwandeln.) Die Sommermonate sollen allerdings nur etwas für wahre Menschliebhaber sein. Genau wie der Winter. Zum Wandern empfehlen viele den Herbst.
Ich habe gelesen, die meisten Touristen würden sich an den immer gleichen Plätzen konzentrieren. Buttermere gehört dazu. Es ist Sonnabend und die Wochenendausflügler sind ausgeschwärmt. Vor den Pubs und Inns der 130-Seelen-Gemeinde sind alle Plätze an der Sonne besetzt.
Wir finden nicht mal einen Parkplatz. Und dann schlängelt sich auch noch eine Kuhherde zwischen den Autos hindurch. Zwar ist der Lake District der größte Nationalpark Englands; aber eben ein bewohnter und bewirtschafteter Raum.
Wenn man lieber seine Ruhe hat, muss man nur einen Kilometer weiter zum Crummock Water.
Was einem am Ufer des Crummock Waters ganz irreal scheint: Die Irische See ist nicht einmal 20 Meilen entfernt. Und einfach nur weil es möglich ist, wollen wir sie jetzt mal besuchen.
Man sagt ja, Menschen sind entweder Berg- oder Meertypen. Wir sind Meermenschen. Das ist gar keine Frage. Sowieso sind Meere, die im Westen liegen, am Nachmittag eine große Sache. Wenn alles andere in Schatten versinkt, hat man dort noch immer volle Sonne. Wie bei den Klippen von St. Bees.
Nur fühlt es sich an, als wären wir aus einer heilen Welt in die Realität katapultiert worden. Keine Spur von der niedlichen Küstenromantik, die wir erwartet haben. Sogar das Meer strahlt für uns Schwere aus. (Aprops strahlen: Gar nicht weit entfernt liegt Sellafield. Vielleicht liegt es daran.)
Eine Bucht weiter, in Whitehaven, ist uns klar: Es ist ein Unterschied, ob ein Land mehr als genug Küste besitzt (England) oder nur ganz wenig (Deutschland).
Cumbrias Küste ist nicht herausgeputzt so wie unsere. Sie wirkt vielfach sogar ärmlich. In den Dörfern und Städten gibt es verdammt viel Leerstand und verrammelte Fenster. Die Gesichter der Menschen – ich könnte sie stundenlang betrachten – entsprechen genau meinen Vorstellungen der englischen Arbeiterklasse. Sie scheinen gezeichnet von allen Härten des Lebens – und sind zugleich von einem Stolz, der uns dermaßen berührt.
Zurück im Auenland in Bassenthwaite sind wir sowas von erschlagen und erfüllt zugleich. Und schwer verliebt in das Vereinigte Königreich.
Die Gardinen unseres Schlafzimmers ziehen wir ab heute übrigens nicht mehr zu. Wo weder Wolken noch Luftverschmutzung den Himmel trüben, da zeigt sich ein Sternenhimmel der Extraklasse. Wacht man nachts mal auf, hat man fast den Eindruck, man könnte nach dem Mond greifen.
Ich liebe England und die Engländer und ihre Verschrobenheiten. Bird Bistros kenne ich noch nicht. Und Cumbria bisher nur aus den (Hör)Büchern von Reginald Hill. Zerit, einmal auf Tuchfühlung zu gehen!
Wenn ich Deine Bilder sehe und Deine Geschichte lese, könnte ich mir sehr gut vorstellen, dass Dir Cumbria gefällt. Verschroben, ist ein gutes Wort. 🙂
Hallo Stefanie,
wir waren ja mit einem Gespann unterwegs. Und Deine Einschätzung zu englischen Autofahrern können wir nur teilen. In den engen Strassen war das mit einem Wohnwagen nicht so einfach. Gerade in Devon doch eher eine Herausforderung. Aber wir wurden immer reingelassen, vorgelassen, kein Hupen oder Schimpfen. Sehr defensive, freundliche Fahrweise und immer ein Dankeschön für rücksichtsvolles Verhalten. Ich habe das Autofahren in England geliebt. Zurück über Frankreich, Belgien und Holland. Und in Deutschland. Rücksichtslos, Lichthupe, niemand lässt einen Wohnwagen vor sich rein. Außer vielleicht im Ammerland in Wiefelstede. 😉 So, jetzt klappt das besser mit der Seite. Mein Mac hat sich für diese Session die Einstellungen „gemerkt“. Liebe Grüsse aus dem Norden an den Norden.
Wiefelstede ist damit abgespeichert als offizieller Himmel für Camper! (Das mit dem „Merken“ ist wahrscheinlich noch nicht ganz die optimale Lösung für uns ;-))