Allgemein, Neulich im Norden, Norden im Osten, Nordische Nachbarn, Polen
Kommentare 11

Polen, Russland und der Brief meiner Urgroßmutter

Frische Nehrung

Östlich von Danzig streckt sich eine 70 km lange Landzunge, die Frische Nehrung, in die blaue Ostsee. Über die Autobahn erreicht man sie in etwa 45 Minuten. Dabei geht es durch das flache Hinterland, wo man sich gut vorstellen kann, dass Friesen die Gegend einst urbar machten. Aus der Friesischen Nehrung wurde im Laufe der Zeit die Frische Nehrung und dann Mierzeja Wislana. Das ist polnisch für Weichsel-Nehrung. Darum ist die längere Anreise auf der Landstraße 501 auch stimmungsvoller.

 

Bohnsack Insel

 

Die Landstraße 501 führt über Wyspa Sobieszewska, eine Insel im Delta der Weichsel. Die Insel entstand erst 1840, als die Preußen gerade mal wieder Danzig annektiert hielten. Eher ungeschickt hatten sie mit dem Bau des Kaiser-Wilhelm-Kanals in die Natur eingegriffen. Es brachte die Verhältnisse durcheinander. Die Ostsee wusste gar nicht mehr, wohin mit sich. Darum schickte sie ihre Wellen in einer stürmischen Eisnacht ins Land hinein – und einen Teil davon einfach ab. Bohnsack-Insel wurde das Eiland nach einem kleinen Fischerdorf genannt.

 

Als Hitler ein Sommerpalais aus Lärchenholz baute

 

Heute ist die Bohnsack-Insel ein Stadtteil von Danzig und ein beliebtes Ausflugsgebiet. Das war sie schon in den 1930er Jahren. Oberfiesling Forster, der Gauleiter der NSDAP von Danzig, besaß hier ein Sommerhaus. Es steht noch und soll teilweise nach Plänen von Hitler himself gebaut worden sein.

 

Vogelparadies

 

Währenddessen reisten Danziger und Elbinger in ihren Wochenend- und Feriendomizile nach Miekoszewo, Jantar und Junoszyno, die damals noch Nickelswalde, Pasewark und Junkeracker hießen. Davon liegt noch ein letzte Ahnung in der Luft. Aber zu viel Nostalgie verbietet sich in Polen generell und auf der Landstraße 501 ohnehin, spätestens in Sztutowo. Etwa zur gleichen Zeit als Hitler ein Sommerpalais aus Lärchenholz auf der Bohnsack-Insel erdachte, ersann er auch die wahrgewordene Hölle – gut 15 km östlich; das Konzentrationslager Stutthof.

 

 

Falls jemand den Prozess um Irmgard Furchner verfolgt: Das Büro der KZ-Sekretärin befand sich in dem großen Backsteingebäude auf dem Foto unten links. Dort will sie nicht gesehen und gehört haben, was sich in und vor den Baracken abgespielt hat. Also Misshandlungen von Zehntausenden Männern, Frauen und Kindern, darunter Erhängungen, Genickschüsse, Gaskammer, Krematorium, stundenlange Appelle, Hungertote usw. Da ging es ihr  genauso wie der Gattin des Lagerleiters in ihrem hübschen Garten am Rande des Vernichtungslagers (auf dem Foto unten rechts).

 

 

Gleich dahinter erreicht die 501 die Frische Nehrung. Die Landzunge trennt die Ostsee von einem relativ flachen, seeartigem Küstengewässer, dem Frischen Haff. Das Frische Haff ist etwa anderthalbmal so groß wie der Bodensee, also keine Kleinigkeit. Der Landstreifen hingegen misst an der breitesten Stelle nicht einmal zwei Kilometer, oft sind es nur wenige Hundermeter vom Meer zum Haff.

 

Frische Nehrung

 

Die Frische Nehrung

 

KatyRybackie

 

Katy Rybackie, ehemals Bodenwinkel, ist der westlichste Ort, der direkt am Haff liegt. Der östlichste ist Piaski, ehemals Neukrug. Wie beinahe überall auf der Frischen Nehrung, wandert man auch von Piaski aus lange, lange durch duftenden Kiefernwald, bevor man den Strand erreicht. An den größeren Stränden kann man sich in offenen Elektro-Gefährten kutschieren lassen. Das ist praktisch, besonders wenn man einen Sundowner zu viel genommen hat. Die Minibusse blinken nachts in allen Farben und Elektro-Beats scheppert aus den Boxen durch nachtschwarzen Wald. Das ist genauso typisch für osteuropäisches Badeleben wie die Tatsache, dass die Natur hier wirklich noch wild wuchern darf.

 

Piaski

 

Piaski ist aber anders. Keine Elektro-Gefährte, keine Euro-Beats, keine einzige Jahrmarktsbude am Strand. Und es knubbeln sich in Piaski auch nicht sämtliche Sonnanbeter:innen am Hauptzugang. Hierher kommt man entweder, um seine Ruhe zu haben. Oder um weiter zu laufen. Noch vier Kilometer ostwärts – entweder am Wellenrand oder durch den Wald. Bis zur russischen Grenze.

 

Piaski

 

Es gibt an der Grenze nichts und niemanden zu sehen. Der russische Teil der Frischen Nehrung, der etwa die Hälfte ausmacht, ist Sperrgebiet. Verbotenes Land bis zum Pillauer Tief, der einzigen natürlichen See-Durchfahrt zwischen Haff und Ostsee.

 

Die Frische Nehrung ist zur Hälfte unbewohntes Terrain

 

Pillau ist der Vorhafen von Kaliningrad. Das ehemalige Königsberg liegt nämlich nicht am Meer, sondern etliche Kilometer landeinwärts am Haff. Die gesamte Region ist eine Art Bastion. Hier liegt ein Großteil der baltischen Flotte Russlands vor Anker und hier stehen auch die Atomraketen von denen es heißt, sie würden Berlin in drei Minuten erreichen.

 

Kiefernwald

 

Das war mir aber nicht besonders unheimlich, als ich am Strand von Piaski saß. Denn das war vor dem Angriff auf die Ukraine; sogar noch vor der Pandemie. Es kommt mir so lange her vor, dass ich „damals“ denke. Und eben damals war ich mehr mit der Vergangenheit beschäftigt. So ging es mir im Osten mein ganzes bisheriges Leben lang. Als müsste ich aufarbeiten, was meine Großeltern nie verarbeiten konnten.

 

Piaski

 

Es gibt da diesen Brief, den meine Urgroßmutter an ihre jüngste Tochter schrieb. Sie erzählt meiner Großtante, die damals gerade erst geboren war, von der Flucht aus Ostpreußen im Winter 1945. Die Flucht dauerte Monate und erfolgte etappenweise. Und die dritte Etappe führte eben auf die Frische Nehrung:

Königsberg. Eines Nachts ein furchtbares Schießen. Am Morgen hörten wir, der Russe wäre 18 km zurückgeschlagen und ein Fluchtweg über See dadurch offen. Mittags kam der Befehl, fertig zu machen. In Autos verladen ging´s zum Hafen – in große, offene Kohlenkähne. Schneefall setzte ein. Bald waren wir durchnäßt und von Kohlenstaub schwarz. Russische Flieger überquerten die Schiffe und schoßen mit Bordwaffen. Es kam zu einer Panik. Die Menschen schrien. Alles drängte die Strickleiter wieder hoch, unbeschreibliches Chaos. Aber der Kohlenkahn brachte uns doch glücklch nach Pillau. Gegen 24 Uhr waren wir da. Doch da hieß es: in Autos hinein – und wieder zurück. Pillau war überfüllt.

Es war unser Glück, mit dem Kinderwagen konnten wir nicht so schnell. Die letzten Autos waren fort. So wurden wir von einem Hoheitsträger der Partei sage und schreibe in eine öffentliche Bedürfnisanstalt eingewiesen. Da sollten wir die Nacht verbringen. Auf meinen Protest antwortete er, wir hätten wenigstens ein Dach über dem Kopf. Es wären schon Hunderte erfroren.

Wir gingen doch hinaus; Helga und Christa an den Hafen. Sie sprachen den 1. Offizier eines großen Schiffes an. Mit Rücksicht auf Dich, den Säugling, wollte er uns mitnehmen. Eine große Menschenmenge hatte sich am Kai angesammelt. Namentlich aufgerufen konnten wir auf´s Schiff. Mit ca. 25 Personen lagen wir in der Offizierskabine. Es gab gutes Essen, aber ich wurde schwer seekrank und bekam Nierenschmerzen. Zum Glück konnte ich auf der Heizung liegen. Zwei Königsbergerinnen versorgten Dich. Die meisten Leute waren seekrank. Viele Schiffe kamen vorbei. Immer wieder meinte ich, Dorchen zu sehen. Sie hatte in Heiligenbeil, Papas Geburtsort, ihn noch getroffen und ihm von unserem Aufenthalt in Königsberg erzählt. Er hatte mit seinen Kameraden ein Floß gezimmert und war den Pregel entlang nach Königsberg gekommen. Aber er hatte uns nicht mehr angetroffen.

 

Frische Nehrung

 

Nach 3tägiger Schiffahrt waren wir in Danzig. Dort wurden wir in große Hallen, die total verschmutzt waren, eingewiesen. Ein unbeschreibliches Chaos. Von Helferinnen des D.R.K. wurde ich aufgefordert, mit Dir ins Krankenhaus zu gehen. Ich lehnte ab, wollte mich nicht von den anderen trennen. Christa und Helga fanden einen Zug, der nach Dänemark fuhr. Schnell ging´s in einen Wagon. Vorher waren dort Schweine verladen gewesen. Nun waren ca. 80 Flüchtlinge darin. Man konnte nur abwechselnd sitzen.

Der Zug fuhr stundenlang, um dann wieder stundenlang zu stehen. Nie wusste man, wann er wieder fuhr. Männer, Frauen, Kinder, alles stieg übereinander, nur um etwas zu essen zu holen. Oft fuhr der Zug weiter und Angehörige blieben zurück. Siegfried lief auch einmal vom Hunger geplagt los. Ich kam bald um vor Angst, der Zug könnte ohne ihn abfahren. Aber er kam mit Brot zurück. Helga, Christa und Hannelore liefen sobald der Zug hielt los, um für Dich Milch zu bekommen. Meist gelang es. Die Milch wurde dann im Kochgeschirr unterm Licht erwärmt. Wenn gar nichts da war, holten sie Wasser von der Lokomotive. Mit Zucker war das dann Deine Nahrung. Deine Windeln trocknete ich, indem ich sie mir auf den Körper legte. Eis wurde aufgeschlagen und Du mit Wasser gewaschen. Christa versorgte Dich zum Schluss ganz und gar. Ich konnte nicht mehr, hatte ich doch tagelang weder gegessen noch getrunken. Nach sechs Tagen erreichten wir Flensburg…

 

Frisches Haff

 

Wie es in Flensburg weiterging, habe ich vor einigen Jahren in einem Beitrag von der deutsch-dänischen Grenze geschrieben. Das war, als Assad und Putin Millionen Menschen mit Bomben und Giftgas aus Syrien vertrieben. Wie kommt es, dass sich die Welt nicht gegen diese Monster wehren kann? Wann wird man je verstehen? Das summt mir immer in der Marlene Dietrich-Version durch den Kopf. Aber eigentlich hat es Pete Seeger geschrieben – inspiriert von einem alten Lied der Donkosaken. Ausgerechnet.

Und wo sind die Gänse?
Sie liefen ins Schilf.
Und wo ist das Schilf hin?
Von Mädchen gemäht.
Und wo sind die Mädchen?
Verheiratet längst!
Und wo die Kosaken?
Sind fort in den Krieg!

 

Kahlenberg

 

Die Frische Nehrung – weiterlesen

Eine wirklich schöne Geschichte gibt es auf dem Blog Flaschenposten zu lesen. Sie nimmt in Krynica Morska, dem größten Seebad am Haff, ihren Anfang.

 

 

Krynica Morska ist ein wilder Mix aus allem, was die Frische Nehrung ausmacht. Dort starten auch die Ausflugsboote über das Frische Haff. Noch besser ist es allerdings, die andere Haffseite mit dem Auto zu erkunden: Klick. Wenig wünsche ich mehr, als dass es bald wieder ganz ohne Bedenken möglich ist.

 

 

11 Kommentare

  1. Juliane Jantosch sagt

    Liebe Steffi,
    als ich die Bilder sah, war ich sofort wieder dort, kann mich genau an die einzelnen Stationen und Tage erinnern – der Strand, die Orte, all das Historische – es war eine sehr schöne Reise mit dir.

  2. So schöne Eindrücke und ein absolut berührender Brief, besonders vor dem aktuellen politischen Hintergrund. Danke, dass Du diese sehr persönliche Geschichte mit uns teilst.

    Liebe Grüße, Martina

    • Liebe Martina, hat sich ja schon allein deshalb gelohnt, weil ich mal wieder was von Dir höre. Ich hoffe, Euch geht es gut. Liebe Grüße Stefanie

    • Lieber Helmut, schön, von Dir zu hören. Ich bin meiner Uroma total dankbar für diesen Brief. Und überhaupt alles… Liebe Grüße, Stefanie

  3. Barbara Keuling sagt

    furchtbare Geschichten, und wieder sind Millionen auf der Flucht, zwei davon sind bei uns gelandet….

    • Toll, dass Du das machst, Barbara. Ich habe auch im Freundeskreis Menschen, die sich gerade kümmern. Darauf muss man sich konzentrieren. Liebe Grüße, Stefanie

  4. Sehr schöner Bericht und wie immer tolle Foto´s.
    Besonders der Brief einer Zeitzeugin ist berührend,das ist erlebte Geschichte-so wie sie meine Großeltern,Eltern und auch Schwiegereltern am eigenen Leibe erleben mußten.
    Leider hat ein großer Teil der Menschheit aus der Geschichte mit Krieg,Flucht und Vertreibung nichts gelernt.
    viele Grüße von
    Ralf,dem Halligfahrer

  5. Ist das nicht verrückt, dass gefühlt jeder jemanden kennt oder gar in der eigenen Familie hat / hatte, der aus diesem Gebiet geflohen ist?
    Ist das nicht verrückt, dass Frieden so schön sein kann? Und ist das nicht so unfassbar, so völlig unfassbar verrückt, dass einige Menschen das Paradiesische solcher Orte nicht erkennen und schon gar nicht zu schätzen wissen und viel lieber für ihre eigenen verblendeten Ideologien / Idiotien leben und dabei gar nicht merken, wie verwest ihre eigene Seele ist?

    Ich habe vor Jahren in Kiev gearbeitet und sehe heute diese sinnlose Zerstörung. Ich habe mit Russen, Polen, Letten, Ukrainern an einem Tisch gesessen, zusammen gegessen, geflirtet, getrunken, gearbeitet… Wohl gemerkt, ZUSAMMEN. Welcher Wahnsinnige kann so etwas zerstören?

    Liebe und traurige Gedanken

    Kai

Du hast was zum Thema beizutragen? Darüber freue ich mich sehr.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.