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Schön leer am Meer

Grossenbrode-Kai

Be careful what you wish for, dachte ich neulich auf der ewig langen Mole von Großenbrode-Kai. Das war am zweiten der beiden bisherigen Frühlingstage im Norden. Er tauchte die Welt in dieses pudrige Blassblau, bei dem Himmel und Ostsee am Horizont miteinander zu verschmelzen scheinen. Die Sonne schien warm und in der Windstille war nicht der leiseste Wellenschlag zu hören.

Nonnengaense

 

Ein Bilderbuchtag also. Nur dass sich ein surreales Gefühl einstellte. Wie in einem schönen Traum, wenn im Grunde alles phantastisch läuft, aber im Hinterkopf schon eine Ahnung aufsteigt, die Stimmung könnte kippen. Denn da war keine Menschenseele.

 

Grossenbrode Kai

 

Großenbrode gehört zu den Ostseebädern, von denen ich immer glaubte, sie könnten ohne Touristen charmanter sein. Am Strand reihen sich Retortenbauten, entstanden erst in jüngerer Zeit und für meinen Geschmack viel zu brachial für die zerbrechliche Küstenlinie Holsteins. Am meisten Seele besitzen dort die ehemaligen Kasernen eines Seefliegerhorsts. Die Marine unterhielt hier im Zweiten Weltkrieg Schiffsanleger für Mienenräumboote und einen Wasserflughafen.

 

Grossenbrode

 

Damals war das natürlich Sperrgebiet. Erst durch die deutsch-deutsche Teilung kam Leben nach Großenbrode-Kai. Westdeutschland benötigte Ersatz für den Eisenbahnfährverkehr nach Dänemark, der bisher über Warnemünde abgewickelt worden war. Und so wurde Großenbrode zum internationale Drehkreuz und Eisenbahner verwandelten die Rotklinker-Kasernen in richtig tolle Domizile.

 

Grossenbrode Mole

 

Von 1951 bis 1963 wechselten die Reisenden von und nach Kopenhagen am Großenbroder-Kai aus dem Skandinavien-Alpen-Express auf die Fähre – oder eben anders herum. Dann wurde der Bahnhof aufgegeben, denn mit der Fehmarnsundbrücke startete auch die sogenannte Vogelfluglinie über die Insel Fehmarn. Die Bundeswehr übernahm das Areal und entzog es der Öffentlichkeit für 32 Jahre.

 

Extrem blau und gespenstisch schön: Großenbrode-Kai

 

Erst Ende 1990er Jahre wurde Großenbrode-Kai der Gemeinde zurückgegeben. Ich vermute, die Revitalisierung ist besser gelungen als am benachbarten Südstrand im 70er-Look. Aber ganz sicher bin ich nicht. Denn als ich von der Marina über die beinahe einen Kilometer lange Mole spazierte, nahm ich zwar die Schönheit intensiv wahr. Doch sie war auch kalt – so ganz ohne Menschen.

 

Hausboot Grossenbrode

 

Im ersten Lockdown – als es Hamburger*innen nicht erlaubt war, auch nur einen Fuß weit über die Stadtgrenze zu treten – sehnte ich mich sehr nach den nun einsamen Stränden und verwaisten Promenaden. Ich stellte mir das pardiesisch vor. Doch be careful what you wish for, lest it come true, wie die Engländer sagen. Denn so wunderbar sind Ferienorte ohne Kinderlachen gar nicht. Sie könnten es vielleicht sein, wenn man wüsste, dass einen Strand weiter das große Quietschvergnügen steigt. Da ich weiß, dass es nicht so ist, bleibt mir die leere Schönheit gespentisch. Als jemand, der tendenziell das Alleinsein der Gesellschaft vorzieht, ist das für mich eine interessante Erkenntnis.

 

Suetel

 

Ja, ja, es ist schön leer am Meer. So leer, wie ich es mir immer gewünscht habe. Nicht nur in Großenbrode-Kai. Aber eben auf Kosten derjenigen, die verzichten müssen und derjenigen, die um ihre Existenz bangen. Psychologisch gesehen stört dieses Wissen das Gemeinschaftsgefühl, das uns zu sozialen Wesen macht. Ein Stamm, ein Volk oder auch die gesamte Menschenheit ist auf innere Verbundenheit angewiesen, um zu überleben. Mangelt es einer Gesellschaft daran, sieht es für sie übel aus. Man sieht das, wann immer Despoten zu übertriebenem Egoismus verführen.

 
Großenbrode Suetel
 

Ich schreibe das heute besonders für alle, die sich nach einer Auszeit sehnen, aber versagen (müssen). Es ist keine Frage, dass die Situation schwer ist. Aber sie ist endlich. Und wenn Ihr dazu noch zu den Glücklichen gehört, die mit sozialer Kompetenz und emtionaler Intelligenz beschenkt wurden, werdet Ihr sehen: das Meer wird noch viel blauer sein, wenn wir uns dort alle wieder gemeinsam tummeln – oder aus dem Weg gehen – können. Bis dahin: passt auf Euch auf!

 
Kormorane
 

12 Kommentare

    • Liebe Liane, es war für mich seltsam. Ich bin ständig auf der Suche nach Leere. Und als ich sie nun fand, war´s auch wieder nicht richtig. (Fast wie mit dem Wetter).

      • Ja, komisch. Der Mensch ist ein seltsames Wesen. Er will immer das, was man gerade nicht kriegen kann und wenn man es hat, sehnt man sich nach dem Gegenteil…

  1. Wenn ich entweder im Spätherbst oder im Vorfrühling zum Urlaub auf die Hallig fahre,ist es generell leer und ruhig.
    Und genau so mag ich es am liebsten.
    Massentourismus und seine Begleit-Erscheinungen sind mir ein Greuel.
    Das war aber auch schon vor Corona der Fall.
    Wie immer schöne Bilder,die bei mir große Vorfreude auf den nächsten Urlaub auslösen.
    viele Grüße und bleibt bitte alle gesund
    Ralf

  2. P.Richter sagt

    Retortenbauten halten mich immer mehr von diesen Urlaubszielen ab. Sie spiegeln den Zeitgeist wieder der aus Gier und Flächenversiegelung zusammengesetzt ist.

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