Vor dem ehemaligen Gefängnis von Karosta breitet eine alte Frau Plastikschüsseln und Aluschälchen auf dem Boden aus. Sie gießt hier ein wenig Milch dazu, rührt dort ein wenig um. Von überall schleichen wilde Katzen herbei. Eine streicht ihr um die Strümpfe.
Ob wir vielleicht ein Foto… fragen wir auf Englisch und lassen den Satz irgendwie auströpfeln, wie deutsche Touristen unserer Generation es gerne tun. Die Frau antwortet auf Russisch. Es klingt nach: Warum nicht? Und wir bedauern nicht zum ersten Mal die Sprachbarriere. Zu gern würden diesen unfassbaren Ort verstehen, den der lettische Touristenverband so wunderbar lautmalerisch beschreibt als
das erstaunliche Territorium von Karosta
Karosta, lettisch für Kriegshafen, ist der nördlichste Stadtteil von Liepaja, einer Großstadt an der Ostseeküste Lettlands. Fast ein Drittel des Stadtgebiets nimmt er ein. Einst funktionierte das Lebens jenseits der Kalpaka-Brücke für 30.000 Menschen vollkommen autonom, eigene Strom- und Wasserversorung inklusive. Heute zählt Karosta nicht einmal mehr 7.000 Einwohner.
Karosta wurde 1890 unter Zar Alexander III gegründet, um der zunehmenden Macht der Deutschen im Ostseeraum zu begegnen. In den Anfangsjahren war dieser Außenposten des russischen Imperiums reich an gesellschaftlichem und kulturellem Leben. Viele ranghohe Militärs und Adelige übersiedelten damals mit ihren Familien nach Lettland. Es gab Schulen, Kirchen, Theater, Vergnügungsbetriebe und manche verglichen Karosta in seiner Schönheit mit St. Petersburg.
Durch hundertjährige Prachtalleen weht bis heute ein Hauch zaristischer Eleganz. Doch ganze Straßenzüge sind vollkommen unbewohnt, Fenstern und Türen der Gespenstervillen zugemauert. Zwischen lichten Birkenwäldchen verfallen Geisterkasernen zu Ruinen.
Etwa die Manege, von der nur noch Grundmauern stehen. Vor dem 1. Weltkrieg wurde sie zum Sporttraining der Matrosen genutzt. Auch Empfänge und Gala-Diners fanden in dem Raum statt, der mehr als 4.000 Menschen fasste und von einer kühnen Metallkonstruktion überspannt wurde. Eingelassene Glasziegel sorgten für die Ausleuchtung des gewaltigen Raumes.
Ein Gefühl der Unwirklichkeit stellt sich ein, während wir durch die Ruinen streifen. Zwar gilt Karosta einer bestimmten Art von Reisenden als Ort, den man in Lettland unbedingt gesehen haben muss. Doch an diesem warmen, diesigen Sonntagmorgen zieht es nur wenige Besucher in die verwaisten Alleen. Die Menschen sind am Strand.
Die russische Flotte wählte Karosta als Stützpunkt aufgrund der ganzjährigen Eisfreiheit. Doch bereits 1908 erwies sich die Nördliche Festung als strategischer Fehler. Den Kanonen fehlte es an Reichweite, um angreifende Schiffe abzuwehren.
Die Nördliche Festung von Karosta
Nutzlos geworden, sollte die Festung gesprengt werden. Die Bauweise war jedoch zu massiv. Und so ließ man die Überbleibsel, wo sie waren. Treppen, Bogengänge, Schutzräume und Geröll finden sich in der Ostsee verstreut wie ungeliebtes Spielzeug eines Riesen.
Die Festung mit ihren unterirdischen Gängen zieht sich über mehrere Hundert Meter entlang der Küste. In etlichen kleinen Buchten haben sich Badegäste zurückgezogen wie in einen privaten Traum. Es ist, als würde man sich in einem surrealen Gemälde befinden.
Weitaus belebter geht es auf der Nordmole zu. Sie ist 1.800 Meter lang und besonders an stürmischen Tagen eines der beliebtesten Ausflusgsziele Liepajas. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, dass es Letten untersagt war, Karosta zu betreten.
Während der Stadteil zunächst unter deutscher und später sowjetischer Besatzung zusehends verwahrsloste, galt er als strengstes Sperrgebiet. (Und da dachte ich immer, Berlin sei in seiner Teilung etwas Besonderes.) Nicht einmal auf Karten war der Hafen verzeichnet.
Karosta und die Sowjets
Das Merkwürdigste an Karosta ist der architektonische Kontrast zwischen russischer Ästhetik und sowjetischer Hässlichkeit. Plattenbauten für 26.000 Soldaten stampften die Sowjets mit scheinbar größtmöglicher Brutalität ins Gelände. Es ist sicher kein Zufall, dass die Sichtachsen auf die orthodoxe Meereskathedrale verbaut wurden. Auch im Inneren wurde St. Nikolai entweiht. Das Wahrzeichen Karostas diente der Sowjetarmee als Sporthalle und Kino.
Auf uns wirken die Platten unbewohnbar, wie Slums. Was kein Wunder ist, denn nach Abzug der Armee in den 90er Jahren, schrumpfte die Bevölkerung Karostas um 20.000 Menschen. So sind etliche Einheiten unbewohnt, in Hauseingängen stapelt sich Sperrmüll und vermutlich gibt es nicht umsonst so viele Katzen wie wir es noch nirgends auf der Welt gesehen haben.
Zu den wenigen historischen Gebäuden, die instand gehalten wurden, gehört das Gefängnis. Die letzten Sträflinge saßen dort bis 1997 ein. Heute beherbergt das Gefängnis ein Besucherzentrum. Die ehemaligen Kantine wurde zur Cafeteria umfunktioniert. Dort wird auch eine empfehlenswerte Dokumentation gezeigt.
Liepaja bemüht sich um die Wiederbelebung des Viertels. Die Meereskathedrale wurde als erstes renoviert. Bereits drei Monate nach Abzug der Sowjets fanden wieder Gottesdienste statt. Auch andere Ecken werden aufgemöbelt. Doch es gibt wohl Dinge, die man nicht mit einem Eimer Farbe ändern kann.
Es gibt offenbar nicht nur Spannungen zwischen Letten und Russen, wie wir an anderer Stelle schon beschrieben haben, sondern auch innerhalb der russischstämmigen Bevölkerung. Als eine Frau den Kirchhof betritt, ihr Kopftuch hochschlägt, spuckt ein vom Alkohol Zerstörter vor ihr aus. Er beschimpft sie aufs Übelste, während sie die Treppe hinaufeilt. Der Grund für die Agressivität bleibt uns verborgen. Wie uns Vieles in Karosta unverständlich bleibt. Doch gerade das macht diesen Tag aus. Dass man aus dem Grübeln gar nicht mehr herauskommt.
Karosta ist kein gefälliger Touristenspot. Nicht umsonst befindet sich hier die einzige Tankstelle des Landes, in der man nicht mit Bargeld zahlen darf. Doch es ist auf jeden Fall ein einmaliger Ort. Man kann ihn inspirierend finden. Oder grässlich. Dazwischen gibt es glaub ich nichts.
Ich habe nirgendwo anders einen drastischeren Kontrast kennen gelernt zwischen arm und reich als in Lettland. Und es waren die Armen, die mich so herzlich empfangen haben. Die eingeladen haben und die ihre ehrliche Dankbarkeit zum Ausdruck brachten, hilfsbereit waren und perfekt improvisieren konnten. Lettlands Umland, das ist kein sightseeing, das ist lifetime. Und gerade solche Orte sind es, die mich inspirieren und das Land spürbar machen. Wehmut kommt auf bei diesen wunderbaren und leider ungenutzten Gebäuden auf, von denen es in Osteuropa so zahlreiche gibt. In Lettland habe ich aber die große Hoffnung, dass man diese Substanz erhalten und etwas daraus machen wird. Ich hatte damals das Vergnügen, in der Ex-Villa vom russischen Staatspräsidenten Breschnew wohnen zu dürfen. Das war eine Zeitreise für sich. Lettland- wir werden uns wieder sehen.
DAnke Euch für den tollen Beitrag.
Kein klassisches Sightseeing; da hast Du Recht. Wobei es ja auch immer diese paradiesischen Ecken gibt, in denen die krassen Eindrücke ordnen kann. Wir werden wohl Lettland ewig in ganz besonderer Erinnerung behalten. Das ist ein tolles Land.
…wie ungeliebtes Spielzeug eines Riesen… Das ist eine schöne Formulierung. Ein schöner Bericht und Fotos, die die Kontraste wunderbar widerspiegeln. Für mich gehört allerdings eine gute Portion Optimismus dazu, die Stimmung als inspirierend zu empfinden.
Oder das Gegenteil. 🙂 Dem Vernehmen nach lassen sich besonders Berufsmelancholiker (Künstler) gern von Karosta inspirieren.
Ein Ort, der mir gefallen würde, glaube ich. Mit Ecken und Kanten. Zwiebeltürmchen neben Bunker und Eiffel … Lieblingsfoto: Schiefes Bild vor Kacheln und roten Blumen. Für mich auf jeden Fall inspirierend! LG, Jutta
Spezieller Ort. Spezielle Menschen. Nech?!
Ein toller Reisereport!
Danke; freut mich.
Ein schöner Beitrag. Der Ort würde mich auch interessieren, ich finde besonders die Relikte der Sowjetgeschichte sehr spannend. Für die Bewohner ist es aber sicher kein so angenehmer Ort… In Lettland scheinen die Kontraste größer zu sein als in Estland. Dort habe ich so heruntergekommene Stadtteile nirgendwo gesehen – allerdings war ich auch noch nicht im Osten, die die russischstämmige Bevölkerung überwiegend wohnt und wo es mehr soziale Probleme gibt als im Westen.
Ja, das mag sein. Wir haben in Lettland häufiger gehört, dass die Esten noch konsequenter in der Ausgrenzung der Russen sind. Aber das ist natürlich nur Hörensagen. Ich vermute mal, dass die Nähe zu Schweden an der lettischen Ostseeküste für eine starke Präsenz der Sowjets gesorgt hat. Keine einfache Geschichte das alles. Gerade darum interessiert es mich auch sehr.
[…] Unserer Beobachtung nach ist die Population am größten, wo viel russisch gesprochen wird. Die meisten Katzenversammlungen haben wir in Karosta beobachtet. (Karosta ist auch in anderer Hinsicht ein unbedingtes Must-see. Davon hier mehr.) […]
[…] Festung aus dem Meer. Über Liepajas Stadtteil Karosta haben wir schon ausführlicher berichtet. Karosta ist ein unglaublicher Ort, der auf keinem Lettland-Trip fehlen […]